Im Archiv gestöbert: Das Landhaus Kolbe in Radebeul

Mit dem gesundheitlich bedingten Rücktritt von Carl Kolbe (1855-1909) vom Vorsitz der Geschäftsleitung der Chemischen Fabrik von Heyden AG Radebeul ging 1907 eine Ära zu Ende. Kolbes Vater Hermann (1818-1884), Chemieprofessor in Leipzig, hatte 1873 mit der Entwicklung einer neuartigen Methode zur Salizylsäuresynthese die technische Basis für die Gründung der Fabrik ein Jahr später gelegt. 1884 holte Kolbe sen. seinen gerade 29-jährigen ältesten Sohn in die Firma, der, ab 1885 Miteigentümer, ihren Ausbau zum damals größten Chemieunternehmen Sachsens vorantrieb und ihre Geschicke auch nach dem Börsengang 1899 als allein zeichnungsberechtigter Generaldirektor weiter bestimmte. Carl Kolbe, selbst promovierter Chemiker, machte sich auch um die Entwicklung des Industriedorfes Radebeul verdient, dessen Gemeinderat er von 1891 bis 1902 angehörte. 1935 wurde sein Andenken deshalb mit der Umbenennung der Radebeuler Fabrikstraße in Kolbestraße gewürdigt. Heute soll es aber weniger um das Wirken dieses Industriekapitäns gehen als um sein Wohnen.

Kolbevilla von Norden

Betrachtet man die Backsteinvilla Zinzendorfstraße 16, die Familie Kolbe 1892 bezog und die in Radebeul damals ihresgleichen suchte, dann erscheint der zeittypische Begriff Landhaus fast untertrieben. Geld spielte beim Bau der repräsentativen Generaldirektorenresidenz offenbar keine Rolle, für deren Entwurf Kolbe einen der aufstrebenden Stararchitekten seiner Zeit verpflichtet hatte, den Berliner Regierungsbaumeister und Königlichen Baurat Otto March (1845-1913).1 March, wie der vor kurzem an dieser Stelle behandelte Richard Steche ein Schüler von Johann Heinrich Strack und damit in besonderer Weise der Backsteinarchitektur verbunden, gehörte zu den Söhnen der Charlottenburger Firma »Ernst March & Söhne«, einer renommierten Tonwarenfabrik, aus deren Produktion sich gerade in Radebeul zahlreiche Terrakotta-Plastiken erhalten haben, etwa im Park des Hohenhauses, am Rondell in der Dr.-Schmincke-Allee oder an der E.-Bilz-Straße. Prägend für Otto Marchs Wirken als Villenarchitekt waren die Eindrücke, die er während eines längeren Englandaufenthalts 1888 gesammelt hatte.

Halle

Auch bei der inneren Gestaltung des »Landhauses Dr. Kolbe«, dessen Entwurf 1891 auf der Berliner Architekturausstellung präsentiert wurde, orientierte sich March an der vornehmen englischen Landhausarchitektur der Zeit, die in puncto Komfort und Wohnlichkeit als vorbildlich galt. Die mit Vertäfelungen, aufwändig verzierten Decken, Bleiglasfenstern, vielfältigen Einbauten und Ornamenten malerisch ausgestalteten Wohnräume sind zentral um eine im Grundriss fast 60 Quadratmeter große, über beide Hauptgeschosse reichende Halle mit Haupttreppenaufgang gruppiert. Dort sowie im Herrenzimmer und im Salon der Dame sorgen offene Kamine für Behaglichkeit. Ein »Grünhaus« für die Dame durfte ebenso wenig fehlen wie ein großzügiges Billardzimmer mit direktem Zugang zum parkartigen Garten und ein in zwei Ebenen angeordneter Weinkeller mit Probierstube für den Herrn.

Auch die technische Ausstattung befand sich auf internationalem Stand. »Die Erwärmung des Hauses erfolgt durch eine Kellingsche Warmwasserheizung, die Beleuchtung durch elektrisches Licht vermittelst einer Accumulatorenanlage, welche im Keller des in der Nähe befindlichen Stallgebäudes untergebracht ist und durch Kabel von der in der 800 m entfernten Fabrik aufgestellten Dynamomaschine geladen wird.«2 Gut vier Jahre vor Inbetriebnahme des Kummer’schen Elektrizitätswerks im Lößnitzgrund fertig gestellt, war die Kolbevilla damit möglicherweise überhaupt das erste Radebeuler Wohngebäude mit elektrischer Beleuchtung. Und auch die Dienerschaft (die Hausangestellten wohnten im teilweise ausgebauten Dachgeschoss, die Gärtnerfamilie im Souterrain) durfte sich über moderne Arbeitserleichterungen freuen, so war etwa die im Keller befindliche Waschküche über einen Fahrstuhl mit dem Trockenboden verbunden. Was die innere Ausstattung betrifft, war »Wohnlichkeit, physisch und psychisch genommen, das bewegende Grundmotiv« des in enger Abstimmung mit dem Bauherrn arbeitenden Architekten, wie ein Kritiker in der Deutschen Bauzeitung (30. Jg., 1896, Nr. 96, S. 601) anerkennend bemerkte. Und betrachtet man die dort abgedruckten Interieurzeichnungen, könnte man sich das Haus im Originalzustand gut als Kulisse für die Verfilmung eines englischen Krimis vorstellen.

Herrenzimmer

Die moderne Ausstattung steckte March in eine historisierende Hülle, deren Stil, ähnlich wie der der zeitgleich im Bau befindlichen Radebeuler Lutherkirche, der deutschen Neorenaissance verpflichtet ist. Die nach Nordwesten gerichtete, herrschaftlichere Schauseite mit Gartenterrasse und Balkon wird von einem stattlichen Giebel und zwei mit welschen Hauben turmartig abgeschlossenen Frontausbauten dominiert. Die Südostfassade mit dem Haupteingang zeigt dagegen eher ländliches Gepräge. Die Flächen sind mit roten Klinkern verblendet, Gesimse, Pfeiler und Fenstergewände in Cottaer Sandstein ausgeführt. Auch hier wurde mit ornamentalem Schmuck, Steinmetz- und Kunstschmiedearbeiten, nicht gespart. Alles in allem, so Oskar Hofsfeld 1891 im Centralblatt der Bauverwaltung, stellte die Kolbevilla »ein beachtenswertes Beispiel für den Landsitz einer begüterten deutschen Bürgerfamilie dar«, »eine Schöpfung, die das Auge des Beschauers erfreut« und geeignet sei, »dem Besitzer in hohem Maße den Genuss häuslichen Behagens zu gewähren.«

Über das weitere Schicksal der seit 1980 unter Denkmalschutz stehenden Villa, u.a. jahrzehntelang als chirurgische Klinik, hat Dietrich Lohse schon vor mehr als 13 Jahren an dieser Stelle berichtet (V&R 1994/1, S. 2-4). Damals befand sich dort noch eine Behindertenwerkstatt des Vereins »Lebenshilfe«, seit deren Auszug im Februar 1995 das Gebäude trotz verschiedener Sanierungsplanungen nach wie vor leer steht. Dem gegenwärtigen Besitzer ist an »häuslichem Behagen« wohl nicht so sehr gelegen, und statt Freude erregt das Anwesen, das mittlerweile eher als Kulisse für einen Gruselfilm herhalten könnte, beim Betrachter heute nur noch Mitleid. Da aus dem einstmals gepflegten Park mit seiner sehenswerten Einfriedigung ein kaum wirksam zu sichernder, verwilderter Hochwald geworden ist, hat die verlassene Villa inzwischen auch ungebetene Gäste gehabt, Vandalismusschäden sind die Folge. Fragt sich, wie lange dieser unwürdige Zustand noch fortdauern soll. Jede denkbare Nutzung dieser bemerkenswerten gründerzeitlichen Fabrikantenvilla wäre besser als gar keine. Am besten freilich wäre es, wenn sich eine öffentliche Nutzung fände.

Frank Andert

[V&R 7/2007]

  1. Neben zahlreichen Wohn- und Geschäftshäusern schuf der auch als Bauunternehmer tätige Architekt später u.a. eine Reihe von Kirchenbauten in ganz Deutschland. Marchs letztes Großprojekt war 1912/13 das Berliner Kaiser-Wilhelm-Stadion, das 1934/36 durch seinen Sohn Werner zum Berliner Olympiastadion umgebaut wurde.
  2. Hd. (= Oskar Hofsfeld): Landhaus Kolbe in Radebeul. In: Centralblatt der Bauverwaltung 11(1891)49, S.478f., hier S.479.
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Ein Trackback

  1. […] 16, beim Arzt war, könnte sie erkennen. Zum Arzt geht man dort nun schon lange nicht mehr. Dass eine der prächtigsten Villen unserer Stadt so verkommen durfte, ist eine Schande! Jetzt scheint es da wieder Hoffnung zu […]

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