Im Archiv gestöbert: Die alte Naundorfer Schule

Im Aprilheft hat Frank Thomas eine kleine Serie zur Geschichte des Radebeuler Gymnasiums Luisenstift eröffnet, die mit der Grundsteinlegung vor bald 140 Jahren begann. Das Gebäude der einstigen Höheren Töchterschule ist aber nicht das einzige hiesige Schulhaus, das 2008 runden Geburtstag hat. Vor 130 Jahren, am 1. Mai 1878, wurde das erste Volksschulgebäude des Dörfchens Radebeul, die heutige Schillerschule, geweiht; die Weihe des ersten Wahnsdorfer Schulhauses jährt sich am 18. Juni zum 150. Male, und mittlerweile stolze 225 Jahre hat das überhaupt älteste noch erhaltene Schulhaus im Stadtgebiet auf den Mauern:

Die alte Naundorfer Schule

„In Sachsen kann jedermann lesen“, schreibt der bayerische Volksaufklärer Lorenz Westenrieder 1780 neidvoll. Und nicht nur das: „Der Bauer weiß Gellerts Fabeln auswendig, hat gewöhnlich seine kleine Bibliothek und […] ist dort im Stand, die Landesverordnung, deren Kanzleysprache der unsrige unmöglich begreifen kann, sich zu erklären.“ Äußerungen wie diese, die den vergleichsweise hohen Bildungsstand selbst der Landbevölkerung im Kurfürstentum Sachsen hervorheben, sind in der Publizistik des 18. Jahrhunderts zahlreich zu finden. Dass die Alphabetisierung hier so weit vorangeschritten war, lag am flächendeckenden Ausbau des Elementarschulwesens seit der Reformation. Getreu der Forderung Luthers, dass jedermann die Bibel lesen können sollte, waren schon im 16. Jahrhundert in allen sächsischen Pfarrdörfern Schulen eingerichtet worden, so auch in Kötzschenbroda. Die Kirchenordnung von 1580 legte fest, dass „alle Custodes und Dorfküster Schule halten“ sollen, „darinnen die Knaben[!] lernen lesen, schreiben und christliche Gesänge […] darauf der Pfarrer sein fleissiges Aufsehen haben und das Volk mit Ernst dazu vermahnen soll.“ Knapp hundert Jahre später gab es in der Ephorie Dresden, zu der auch Kötzschenbroda gehörte, Ansätze zur Einführung einer Schulpflicht. Ein Dekret des Oberkonsistoriums schrieb 1674 vor, dass die Eltern durch die Pfarrer aufgefordert werden sollten, ihre Kinder bis zum 12. Lebensjahr in die Schule zu geben, was gegebenenfalls auch durch obrigkeitliche Zwangsmaßnahmen durchzusetzen war.
Ob sich alle Eltern daran gehalten haben, ist angesichts der weit verbreiteten Armut der Zeit zu bezweifeln. Fest steht jedoch, dass damals auch schon in vielen sächsischen Dörfern ohne eigene Kirch(schul)e Schulmeister tätig waren. Aus den ur­sprünglich verpönten Winkelschulen entwickelten sich reguläre Nebenschulen, so auch in Zitzschewig, Lindenau und in Naundorf, wo im Februar 1661 mit Jacob Grahl ein erster Kinderlehrer eingesetzt wurde. Da das Dorf kein Schulhaus hatte, musste Grahl, wie er selbst 1667 schreibt, „die Kinder bey den Nachbarn die reihe herum informiren“. Die Praxis der so genannten Reiheschule blieb für reichlich hundert Jahre bestehen. Von Woche zu Woche versammelten sich die Kinder des Dorfes in einer anderen Bauernstube, um für wöchentlich drei Pfennige Lesen oder für das doppelte Lesen und Schreiben zu lernen. Erst zur Zeit des sechsten Naundorfer Lehrers, des Katecheten Johann Gottlieb Kerndt (1760-1813) aus Grillenburg, der sein Amt um 1780 antrat, änderte sich dieser Zustand. 1783 ließ die Gemeinde mitten auf dem Dorfanger ein eigenes Schulhaus errichten – das überhaupt erste der Lößnitz außerhalb Kötzschenbrodas. Wie Adolf Schruth schreibt, soll es bereits zu Ostern desselben Jahres (Ostersonntag fiel 1783 auf den 20. April) bezugsfertig gewesen sein. In der Schubertschen Chronik ist das einstöckige Gebäude wie folgt beschrieben: „im Parterre eine Schulstube zu 50 Kindern, Holzschuppen (und Retirade); in der Etage 2 Stuben und 2 Kammern, (keine Küche), sowie ein Boden; im Souterrain endlich ein Kellerchen. An das Schulhaus an schließt sich ein sogen. Krätzegärtchen.“ Die Wohnung wurde 1783 für drei Taler jährlich an den jungen Lehrer vermietet; als Gegenleistung für den geringen Mietzins musste er selbst für die Heizung der Schulstube sorgen. Zehn Jahre später kam es zum Rechtsstreit, weil Kerndt, obwohl seit 1784 Schwiegersohn des Dorfrichters, bisher keinen Pfennig Miete gezahlt hatte. Vielleicht lag das ja an seinem dürftigen Einkommen, denn außer wenigen Groschen aus dem Gemeindesäckel für die Abhaltung von Betstunden war er ganz auf das Schulgeld angewiesen, das gerade im Sommer und zur Zeit der Ernte, wenn viele Kinder, statt zur Schule zu gehen, in der Wirtschaft helfen mussten, kärglich ausfiel.
Mit der Einführung der allgemeinen Schulpflicht in Sachsen 1805 verstetigten sich diese Einnahmen, und in Folge des Volksschulgesetzes von 1835, das eine achtjährige Schulpflicht vorschrieb, und der Landgemeindeordnung von 1838, die den Gemeinden auch die Sorge für die Schulen auferlegte, wurde der Lehrerberuf aufgewertet und besser entlohnt. An der räumlichen und personellen Ausstattung der Schule, die den großen Dorfbrand von 1822 als eines von wenigen Gebäuden unbeschadet überstanden hatte, änderte sich aber bis auf weiteres nichts. Alle Klassenstufen wurden in einem Raum von einem Lehrer unterrichtet. Immerhin hatte der in der Reihenfolge neunte Naundorfer Lehrer, August Bernhard Nözel, der von 1841 bis 1861 amtierte, als erster eine reguläre pädagogische Ausbildung am Fletcherschen Lehrerseminar in Dresden vorzuweisen.
1877 entschloss sich die Gemeinde endlich, ein neues Schulhaus an der heutigen Bertheltstraße zu bauen, das am 11. Juni 1878, vor ziemlich genau 130 Jahren feierlich eingeweiht wurde. Hatte das erste Schulhaus seinen Zweck fast ein Jahrhundert lang erfüllt, musste das zweite schon nach 27 Jahren durch den Neubau der heutigen Grundschule Naundorf ersetzt werden. Das alte Schulhaus am Dorfanger, heute Altnaundorf 40, dessen Fachwerkkonstruktion irgendwann hinter Blendmauern verschwand, war damals längst Wohnhaus, erfüllte aber weiter einen gemeindlichen Zweck. Im Erdgeschoss befand sich nämlich traditionell die Wohnung des Dorfsgendarmen und zumindest bis zur Eingemeindung nach Kötzschenbroda 1923 auch die Arrestzelle der Gemeinde. Deren eiserne Gitterstäbe waren noch vorhanden, als die heutigen Eigentümer das Haus 1999 aus städtischem Besitz erwarben. 1922 wurde das Gebäude, das laut Bauakte damals offiziell als „Armen- und Arresthaus“ fungierte, abgeputzt; vermutlich wurden dabei auch noch mal die dekorativen hölzernen Rankgerüste erneuert, von denen heute leider nur noch die eisernen Befestigungshaken zeugen. Ansonsten hat sich am Gebäude äußerlich seit 80 Jahren wenig getan. Immerhin steht es noch – das benachbarte ehemalige Spritzenhaus der Gemeinde, bei aller Einfachheit auch ein interessanter Bau, wurde Anfang April kurzerhand abgerissen –, und es steht sogar unter Denkmalschutz.
Was man aus solch einem Denkmal der Radebeuler Schulgeschichte machen kann, zeigt die kürzlich erfolgte Sanierung des alten Wahnsdorfer Schulhauses (Altwahnsdorf 65), das von der Lage im Dorf und von der Architektur her deutliche Parallelen zu seinem älteren Naundorfer Pendent aufweist. Erinnerungstafeln an 150 Jahre Wahnsdorfer bzw. 225 Jahre Naundorfer Schulgeschichte fehlen hier wie dort. Neben dem ersten Naundorfer Schulhaus steht dafür der Schaukasten des Dorf- und Schulvereins, der für das diesjährige große Dorf- und Schulfest vom 20. bis 22. Juni wirbt – eine gute Gelegenheit, dem schmucken Anger und im Vorbeigehen auch der alten Schule mal wieder einen Besuch abzustatten.
Frank Andert

2008-05-spritzenhaus

Hist. Foto „Spritzenhaus und alte Schule um 1900“

 

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