Erinnerungen an den Wendeherbst. Oktober 1989

Am 2. Oktober forderte die Schüleraufsicht im blauen FDJ-Hemd am Tor zum Schulgrundstück der Erweiterten Oberschule „Juri Gagarin“ auf der Paradiesstraße diejenigen unter den ca. 160 Schülerinnen und Schüler der Jahrgangsstufe 11 und 12, die gegen 7 Uhr motorisiert (SR 50, S50/51, ETZ 150 u.a.) oder mit Fahrrad kamen, dazu auf, abzusteigen und die laut Hausordnung ausgewiesenen Stellplätze schiebend zu erreichen.
Am 4. Oktober war der Sonderverkauf von „Radeberger Export“ im Getränkestützpunkt auf der August-Bebel-Straße anlässlich des 40. Jahrestages der DDR auf 10 Flaschen je Käufer limitiert.
Am 6. Oktober war die neue Ausgabe der Jugendzeitschrift „Neues Leben“ am Zeitungskiosk an der Wilhelm-Pieck-/Ecke Ernst-Thälmann-Straße längst ausverkauft.
Am 9. Oktober unterließen es empfindliche Fahrgäste, die an der Moritzburger Straße den rot-weiß lackierten Tatrawagen der Straßenbahnlinie 5 zustiegen, im morgendlichen Berufsverkehr freie Hartplastsitze in Anspruch zu nehmen, weil diese unangenehm stark beheizt waren.
Am 12. Oktober hatte die Fleischerei Hartmann auf der Maxim-Gorki-Straße wie jeden Donnerstag eine recht große Auswahl an Fleisch und Wurst, weshalb ein paar Schüler der nahe gelegenen Polytechnischen Oberschule „Otto Buchwitz“ (POSOB) nach Unterrichtsschluss gegen 14 Uhr sich für ihre arbeitenden Mütter anstellten, damit diese bei Ladenöffnung um 15 Uhr eine gute Position in der lang gewordenen Schlange hatten.
Am 14. Oktober war, wie an den meisten Sonnabenden, beachtlicher Andrang an der Tankstelle am Gradsteg, wo man für 1,60M je Liter Gemischtbenzin (1:33 oder 1:50) seinen Trabant oder Wartburg betankte.
Am 16. Oktober wurden, wie an jedem Montag, an allen Radebeuler Schulen durch die entsprechenden Verantwortlichen jeder Klasse das Essen- (0,55 M/je Essen) und Milchgeld (z.B. 0,30 M/Flasche Kakao) für die kommende Woche bei den Schulsekretärinnen abgerechnet und gleichzeitig durch die Sekretärinnen die papiernen Essens- und Milchmarken zur Weitergabe an die Schüler ausgegeben.
Am 21.Oktober umfasste die von Zustellern der Deutschen Post in das Postschließfach 715-05 der Postschließfachanlage auf der Goethestraße eingeworfene Wochenendausgabe der Tageszeitung „DIE UNION“ 10 Seiten.
Am 22. Oktober erreichte die Temperatur außergewöhnlich warme 25 Grad, weshalb auf den Wäschetrocknungsplätzen im Neubaugebiet Weststraße bereits gegen 9 Uhr sämtliche Leinen besetzt waren.

Am 27. Oktober führte die BHG auf der Heinrich-Zille-Straße keinen Portland-Zement, weil dieser bereits ab Eisenbahnwaggon auf der Güterhofstraße an kaufinteressierte Bürgerinnen und Bürger abgegeben wurde.
Am 30. Oktober wäre es für einen Angestellten des VEB „Kaffee und Tee“ auf der Wilhelm-Pieck-Straße möglich gewesen, während der Arbeitszeit einmal „kurz außer Haus“ zu sein, um im Schallplattengeschäft auf der Sidonienstraße eine unter dem Ladentisch zurückgelegte AMIGA-Lizenzschallplatte von Neil Youngs legendärer „Harvest“ für 16,10 M zu erwerben.
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Das war im Oktober 1989, der das Land, in dem wir lebten, veränderte. Ausnahmsweise lebten die allermeisten Menschen damals zwei Leben: Ein politisches und ein privates. Heute ist das (leider) wieder anders, wie man an der Beteiligung an Wahlen sehen kann. Über das politische (Er-)Leben des Herbstes 89 wollte ich hier nicht schreiben, denn es gibt genug Historiker, die sich damit befassen. Ich erinnere mich lieber daran, in welcher Situation ich mich im Herbst 1989 befunden hatte. Und welche Wendung mein privates Leben durch die politischen Ereignisse dann nahm. Das ist zwar nicht wissenschaftlich, sondern subjektiv, aber es ist und bleibt meine Erinnerung. „Manchmal leuchtet die Erinnerung. Manchmal ist sie bleierne Nacht. Es muß einer sehr alt werden, bis auch die bleierne Nacht leuchtet.“ (Elias Canetti).
Ich wünschte, dass möglichst vieler Menschen Erinnerung an diese besondere Zeit leuchtet.
Bertram Kazmirowski

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