Auf der Suche nach dem IRGENDWAS

Die Entstehungsgeschichte eines Lückenfüllers für die „Vorschau“

Und da fällt sie wieder, die Frage, die wir alle am Ende einer Redaktionssitzung fürchten: „Schreibt noch jemand über irgendwas? Das nächste Heft ist noch nicht ganz voll.“ Sascha Graedtke darf so fragen, denn er ist schließlich verantwortlich für die redaktionelle Gestaltung unseres Monatsheftes. Er schaut erwartungsfroh in die Runde, doch unsere Blicke senken sich nach unten oder gehen angestrengt nachdenkend in eine Ferne, die realistischerweise als ideenfreie Zone bezeichnet werden müsste. „Ich habe doch aber schon im letzten Heft…“ – denkt sich der Eine.

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Anordnung 1                                                             Foto: B. Kazmirowski

„Diesen Monat habe ich leider gar keine Zeit…“ – äußert eine Zweite. „Ich fahre in den Urlaub…“ – sagt der Dritte. „Im Moment habe ich kein Thema, aber so ungefähr in zwei Monaten…“ – meint die Vierte. „Vielleicht kommt ja noch etwas von…“ – hofft ein Fünfter. „Frage doch mal den…“ – rät eine Sechste. „Tut mir leid…“ – entschuldigt sich also der Erste. Stille. Jemand nimmt einen Schluck aus der Teetasse. Ein anderer hustet. Eine Dritte kramt in der Tasche. Deren Nachbarin schaut geschäftig auf das Smartphone. Wieder jemand anderes schreibt sich etwas auf. Und der Sechste versucht sich darin, überhaupt nichts zu tun. Es gelingt. Immer noch Stille. „Also, wie sieht’s aus? Hat jemand noch irgendwas?“ In mir regt sich ein Gedanke. Sollte ich Sascha Graedtke dieses eine Mal wörtlich nehmen, also über IRGENDWAS schreiben? „Also gut, ich mache IRGENDWAS“, sage ich in die Runde, und plötzlich spüre ich so etwas wie Dankbarkeit, die mir vom Teetrinker und der Smartphoninhaberin und der Schreibenden sowie aus Richtung des Hustenden und der Taschenbesitzerin – kurz: von allen Seiten des rechteckigen Tisches – entgegenströmt.

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Anordnung 2                                                           Foto: B. Kazmirowski

Jetzt habe ich den Salat. Über IRGENDWAS muss ich schreiben. Was ist das nur für ein doofes Thema! Schwierig ist’s allemal, wo doch die „Vorschau“ von Menschen gelesen wird, die nicht IRGENDWAS interessiert, sondern ganz konkret etwas zu und über Radebeul oder Umgebung wissen wollen. Was bleibt mir anderes übrig als mich auf den Weg zu machen nach dem IRGENDWAS? Ich laufe los. Gehe durch Straßen, passiere Häuser und Villen und Gärten und Fabrikanlagen, durchmesse die Stadt von Nord nach Süd und West nach Ost und muss mir dabei immer wieder sagen: Das alles ist ETWAS, worüber in der „Vorschau“ schon zu lesen war. Jedenfalls ist es nicht das IRGENDWAS, wonach ich suche. Also weiter. Ich durchforste das Stadtlexikon in der Hoffnung auf einen Anhaltspunkt, was das IRGENDWAS sein könnte. Ich stelle fest: Alles, was von Belang ist, hat unser Heft in den letzten 25 Jahren aufgearbeitet. Noch immer bin ich ohne das IRGENDWAS, und der Zeitpunkt des Redaktionsschlusses rückt bedenklich nahe. Ein letzter Versuch. Ich frage Menschen auf der Straße, ob sie von IRGENDWAS wüssten, worüber in „Vorschau und Rückblick“ zu schreiben lohnt. Nach all dem Kopfschütteln, den ganzen „Nees“, den zuckenden Schultern und den „Keene Ahnungs“ treffe ich meinen alten Freund B., ganz in der Nähe der Stadtgrenze zu Dresden. Der lacht kurz auf, bedeutet mir ihm zu folgen, läuft die Forststraße in die Junge Heide hinein und bleibt auf Höhe der Kleingartensparte vor – ja, wie soll ich sagen? – vor IRGENDWAS stehen. Sollte ich es wirklich gefunden haben, DAS IRGENDWAS? Es ist keine Müllkippe, obwohl unzweifelhaft Müll herumsteht. Es ist kein Kunstwerk, obgleich es nicht einer gewissen Ästhetik entbehrt. Es ist kein Denkmal, obschon es zum Nachdenken anregt. Es ist kein Manifest, wiewohl eine grundsätzliche Überzeugung zum Ausdruck kommt. Im Ganzen entzieht es sich einer Beschreibung, nur in den Teilen lässt es sich fassen. Ich entschließe mich, jedes dieser Teile „Anordnung“ zu nennen, denn „Kunst“ scheint mir zu hoch gegriffen und „Installation“ zu avantgardistisch. Anordnung 1: Autoreifen (ungeordnet), PC-Bildschirm und Drehstuhl (gekippt). Dazu ein Hinweis in einer Drastik, die keine Unklarheit lässt: „Die, die Müll illegal im Wald entsorgen, sind die gleichen, die ins Wohnzimmer kacken und den Mülleimer als Suppenschüssel verwenden.“ Anordnung 2: Steinmülleimer (gefüllt), Wäschekorb (mit Müll gefüllt), Hartschalenkoffer, blauer Müllsack (gefüllt). Markiert wird dieses Ensemble durch eine Verlautbarung, als deren Urheber „Der Wald“ angegeben wird: „Wenn ich Menschen sehe, die ihren Müll hier abladen, muss ich kotzen.“ Anordnung 3: gelber Plastiktisch (rechtwinklig gekippt), Fragment eines Aquariums (ohne Fische), Mikrowelle (gekippt), ein asymmetrisches Stiefelpaar sowie

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Anordnung 3                                        Foto: B. Kazmirowski

Gartenutensilien und anderer Kleinmüll. Der Betrachter nimmt dabei folgende Behauptung zur Kenntnis: „Damit sich Fuchs, Igel und Reh heimisch fühlen, entsorgen Vollidioten ihren Hausrat im Wald.“ Unter jedem der drei Beschriftungsfelder lese ich: „Wir freuen uns über fachgerechte Entsorgung durch die Müllabfuhr und warnen vor weiterer illegaler Müllablagerung.“ Ja, das ist das IRGENDWAS, das, wonach ich so lange gesucht habe! So klar mir inzwischen ist, dass es sich beim IRGENDWAS um Müll handelt, der dort nicht liegen dürfte, so unübersichtlich ist, wer hinter diesen Beschriftungen steckt. Wer verbirgt sich hinter dem „Wir“, das sich über Entsorgung freut und gleichzeitig vor weiteren Ablagerungen warnt? B. und ich, wir rätseln darüber und stehen eine Weile einfach nur davor. Stille. Einer von uns hustet. Der andere guckt auf sein Smartphone. Dann blicken wir beide in eine Ferne, die besser als ideenfreie Zone beschrieben werden könnte. Dann schauen wir uns plötzlich an. „Nimm doch irgendwas davon mit und schmeiße es vorn an der Haltestelle in den Mülleimer“, sagt B. „Ich nehme auch irgendwas.“ Gute Idee, denke ich, und greife zu, ich weiß nicht mehr genau, was es war. Irgendwas wird’s schon gewesen sein.

Sollte zum Zeitpunkt des Erscheinens des Mai-Heftes das beschriebene IRGENDWAS verschwunden sein und sich der geneigte Leser nicht mehr selbst ein Bild davon machen können, dann tut es mir nicht darum Leid. Es wird wohl daran liegen, dass dankenswerter Weise IRGENDJEMAND dort inzwischen aufgeräumt hat. Aber auf dessen Suche begebe ich mich nun nicht auch noch, mir hat die Fahndung nach dem IRGENDWAS gereicht!
Bertram Kazmirowski

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