ZEIT-Geist-Fragen 1

Im Magazin der Ausgabe Nr. 51 der Wochenzeitung »Die Zeit« vom 10. 12. 2009 erschien ein fünfseitiger Artikel von Jana Simon unter dem Titel: »Über den Dächern von Radebeul – Die Stadt bei Dresden ist das Nizza Sachsens. Der Villen wegen leben viele Wohlhabende aus dem Westen hier. Doch die schönen Häuser spalten die Stadt: In Arm und Reich, in Einheimische und Zugezogene.« Die Reportage (nachzulesen unter www.zeit.de/2009/51/Radebeul) ist sicher nicht schlechter als das, was immer wieder in allerhand Blättern und Blättchen über unsere Stadt zu lesen war, seit die Radebeuler Millionäre nicht mehr bis nach England fahren müssen, um sich mal eben einen neuen Rolls-Royce zu holen – besser übrigens, wie schon die, mit Verlaub, reichlich dämlich Überschrift ahnen lässt, auch nicht. Trotzdem scheint das gefühlte Maß des Erträglichen durch diesen jüngsten Beitrag zum immer gleichen Thema voll geworden zu sein. Jedenfalls sahen sich diesmal gleich mehrere Redaktionsmitglieder zu Kommentaren veranlasst:

Radebeul im Brennglas des Maklers

Im Grunde sollte es einer Stadt zur Ehre gereichen, in einer der renommiertesten Wochenzeitungen Deutschlands einen so umfangreichen Rahmen zu erhalten. Als langjähriger Leser des von mir durchaus geschätzten Blattes war ich indes über die ausufernden Plattitüden so peinlich berührt, dass ich mich fragte, wie diese journalistische Schwarzweißmalerei im 20. Jahr der Einheit in dieser Fassung und an dieser Stelle in Druck gelangen konnte. Rückt er doch zum wiederholten Male die Kaste einer überschätzten Schickeria ins Zentrum der Betrachtung, die nach Meinung einiger voneinander abschreibender überregionaler Blätter nunmehr den Geist der Stadt nahezu vollständig beherrschen sollen.

Auch wenn der Beitrag streckenweise um ein differenzierteres Bild der Radebeuler Bürgerschaft bemüht ist, bereiten manche Stellen bloß Kopfschütteln. So ist u.a. zu lesen: »Die Villen von Radebeul – nichts beschäftigt die Einheimischen mehr. Die Villen beherrschen die Gespräche der Stadt« oder: »Radebeul teilt sich nicht nur in oberhalb und unterhalb der Meißner Straße, sondern auch in die Klasse der Hausbesitzer und die Klasse der Nichthausbesitzer. Die Villen sind die Währung der Stadt. Wer kein Haus hat, kann auch nicht richtig mitreden.« Unkritisch wird von jenen gesprochen, die es im materiellen Sinne geschafft haben, und jenen, die es wohl bestenfalls zu einem Mietverhältnis brachten. Ein derartiger Klienteljournalismus unter der Ägide von Millionen, Villen und Luxuslimousinen evoziert in unerträglicher Weise eine klischeehafte »Rosamunde-Pilcher-Idylle«, die der breiten Lebenswirklichkeit am Ort wohl kaum entspricht. Der stolze, wie redundant im Artikel zu lesen ist, Audi A6-fahrende Makler erhofft sich medienwirksam wohl eine neuerliche Taxierung seines Jagdreviers. Ob er sich hingegen als zugezogener Bürger damit einen sympathieträchtigen Dienst erwiesen hat, bleibt zu bezweifeln.

Sascha Graedtke

[V&R 2/2010, S. 11f.]

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