Milena Jesenská in Friedewald-Buchholz (Teil 2)

Es lässt sich nicht auf den Tag genau bestimmen, wann Milená Jesenská mit ihrem damaligen Partner Xaver Graf Schaffgotsch (1890–1979) in Friedewald eintraf, aber vermutlich war es im Januar oder Februar 1925. Zu diesem Zeitpunkt hatte sie bereits Fuß als Journalistin gefasst, die sich vor allem aktuellen Themen aus Politik, Kultur und Lebensart widmete und für tschechische Tageszeitungen wie die „Tribuna“ und die Wochenzeitung „Kmen“ schrieb. Darüber hinaus war sie auch als Übersetzerin von Prosa tätig geworden und hatte u.a. Werke von Alfred Döblin, Franz Werfel, Leo Tolstoj und Upton Sinclair ins Tschechische übertragen. Zwar war sie de facto noch mit Ernst Polak verheiratet, aber die Ehe war erodiert, sodass es ihren Freundeskreis nicht verwunderte, dass sie mit einem anderen Mann, Xaver Graf Schaffgotsch, um den Jahreswechsel 1924/25 von Wien kommend in Prag eintraf. Nach kurzem Aufenthalt reiste sie aber nach Friedewald-Buchholz weiter, um ihre Schulfreundin Alice Gerstel zu besuchen, die inzwischen mit dem aus dem Erzgebirge stammenden Otto Rühle verheiratet und als Autorin pädagogischer Schriften in Erscheinung getreten war.1 Das Haus der Rühles ist heute noch fast im Originalzustand erhalten und eines der ältesten Gebäude der Straße. Aus nicht ganz ersichtlichen Gründen – dazu wussten auch die schon lange dort wohnenden Nachbarn nichts zu sagen – fand wahrscheinlich in der Nachkriegszeit eine Umwidmung der Hausnummern statt. Wenn man nämlich heute nach der Gommlichstraße 15b sucht – diese Adresse findet sich unter dem Eintrag „Rühle, Otto, Schriftsteller“ auch im Einwohnerverzeichnis von Dippelsdorf-Buchholz aus dem Jahr 1925 – dann wird man nicht fündig. Das fragliche Grundstück ist heute die Nummer 4, unmittelbar an der Einmündung der Prof.-von-Fink-Straße. Der langjähriger Bewohner des ehemaligen Verlagshauses, ein mittlerweile betagter pensionierter Bäcker, wusste mir zu berichten, dass in den letzten Jahren ab und an Leute nach den Rühles und dem Verlag gefragt hätten, die Anwesenheit einer Freundin Franz Kafkas habe aber bei diesen Erkundigungen keine Rolle gespielt. Bereits 1932 übrigens gaben das Ehepaar Rühle Verlag und Wohnsitz in Buchholz auf und verließen, auch veranlasst durch das rauer werdende politische Klima eines erstarkenden Nationalsozialismus, die behagliche Idylle und wandten sich nach Prag. Was aber machte Milena Jesenská in den vielen Monaten ihres Aufenthaltes? Gesichert ist, dass sie ihre publizistische Tätigkeit fortsetzte, wovon u.a. ein Brief zeugt, den sie wahrscheinlich im August 1925 an den Redakteur des „Národní listy“ schrieb. Darin kündigt sie an, einen Beitrag für das Feuilleton über den Autor Leonhard Frank fertig zu stellen, der auch von ihrer durch den Umgang mit den politisch aktiven Rühles geschärften Weltanschauung Kenntnis gibt: „Ich kann nicht beurteilen, ob der Teil über den Sozialismus in unsere Zeitung hineinpaßt, und ich möchte einerseits meine Situation nicht verschlechtern, andererseits aber auch nicht gerne etwas von dem zurücknehmen, was ich geschrieben habe; es beginnt für mich die wichtigste Sache in der Welt zu werden.“2 Schließlich ist sie auch noch mit einer Übersetzung des Romandebüts von L. Frank („Die Räuberbande“, 1914) beschäftigt, was den Feuilletonartikel erklärt, der auch tatsächlich am 29.8.1925 erschienen war. Des Weiteren gilt als bestätigt, dass sie zusammen mit der eingangs erwähnten Jirka Malá an einer tschechischen Ausgabe des englischen Kinderbuches „Peter Pan“ von James Matthew Barrie arbeitete, weil dieses zu Weihnachten 1925 erscheinen sollte. Der Besuch Jirkás war denn auch ein Arbeitsbesuch, gemeinsam wollten sie letzte Hand an die Ausgabe legen. Darüber hinaus weiß man aus den Veröffentlichungen von Alice Rühle-Gerstel, dass Milena durch ihre kultivierte Freundin mit den Schönheiten des barocken Dresdens und seiner Umgebung bekannt gemacht wurde und sie auch gemeinsam Hausmusik betrieben. Milenas Begleiter, Franz Xaver Graf Schaffgotsch, war für sie während des Aufenthaltes in Friedewald allem Anschein nach ein angenehmer (Gesprächs-) Partner, mit dem sie sich über Politik und Kultur austauschen konnte. Der zum linken Intellektuellen gewandelte vormalige Aristokrat („Der rote Graf“)3 versuchte sich selbst als Schriftsteller und übersetzte in dieser Zeit bereits russische Märchen, die 1927 im Leipziger Inselverlag erschienen. Als beide im Herbst 1925 nach Prag zurückkehrten, trennte sich Milena alsbald von ihm, weil sie ihn dafür verachtete, dass er so unselbständig war uns sich von ihr abhängig machte.

2015-09-Haus Ruehle

Verlagshaus Rühle in Friedewald                                  Foto: B. Kazmirowski

Milena Jesenskás weiteres, leider viel zu kurzes Leben, sei hier kurz skizziert. Nach Heirat 1926 und Geburt der Tochter Jana 1928 hatte sie über viele Jahre mit gesundheitlichen Problemen zu kämpfen, denen sie mit Morphiumkonsum zu begegnen suchte. Ihre journalistische Tätigkeit litt kaum darunter, aber sie wurde zunehmend politischer und in den 1930er Jahren auch Mitglied der Kommunistischen Partei, für deren Presse („Rudé Právo“) sie zu schreiben begann. Nach dem Einmarsch der Hitler-Truppen in Prag im März 1939 ging sie in den Widerstand und wurde im November 1939 verhaftet. Über die Zwischenstation Dresden, wo sie einige Zeit im Untersuchungsgefängnis saß, gelangte sie Anfang 1940 schließlich ins KZ Ravensbrück, wo sie am 17. Mai 1944 vermutlich an einer Nierenentzündung starb. So uneins sich die Forschung darüber ist, ob Milena Jesenská wirklich mehr war als eine attraktive, den Zeitläufen geschickt folgende Intellektuelle, die zufällig zur Freundin eines der bedeutendsten Schriftsteller des 20. Jahrhunderts wurde, so einstimmig fällt das Urteil aller derjenigen aus, die mit Milena befreundet waren: Milena Jesenská hatte eine faszinierende Ausstrahlung, der man sich nur schwer entziehen konnte, und in ihrem bewegten Leben verdichten sich die großen Hoffnungen und Katastrophen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
Bertram Kazmirowski

Literatur:
Altner, Manfred: Anwälte des Werdenden. In: Sächsische Lebensbilder. Literarische Streifzüge durch die Lößnitz, die Lausitz, Leipzig und Dresden. Edition Reintzsch, Radebeul 2001.
Buber-Neumann, Margarete: Kafkas Freundin Milena. Gotthold Müller Verlag, München 1963.
Jesenská, Milena: „Alles ist Leben.“ Feuilletons und Reportagen 1919-1939. Hrsg. von Dorothea Rein. Verlag Neue Kritik, Frankfurt 1984.
Kafka, Franz: Briefe an Milena. Erweiterte Neuausgabe. Fischer Verlag, Frankfurt 1999
Wagnerová, Alena: „Alle meine Artikel sind Liebesbriefe.“ Milena Jesenská. Bollmann Verlag, Mannheim 1994.
Wagnerová, Alena (Hrsg.): „Ich hätte zu antworten tage- und nächtelang“. Die Briefe von Milena. Bollmann Verlag, Mannheim 1996.

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