Nach fünfundsiebzig Jahren

ist es an der Zeit einmal zu fragen, was damals eigentlich passiert ist. Aus dem eigenen Erleben nur des letzten Drittels dieser Zeit können wir Vokabeln wie Verwaltungsgemeinschaft, Gemeindegebietsreform oder Zwangszusammenschluß mühelos vorwärts und rückwärts deklinieren. Wir kennen die Befindlichkeiten der Vereinnahmten, wissen um die Renitenz, mit der neue Namen eifrig vermieden werden. Die Demokratie hats schwer, auf ihrem Wege schmerzhafte Schritte durchzusetzen. Das war damals anders. Da gab es eine Partei, die hatte recht (und brauchte sich das auch nicht immer selbst vorzusingen) und setzte dieses Rechthaben mit unglaublicher Brutalität gegen alle scheinbaren und tatsächlichen Widerstände durch. Sie hat da gar nicht lange gefackelt, obwohl sie grad mit ihren Fackelzügen so viele Ahnungslose zu beeindrucken verstand. Der damalige Bürgermeister von Kötzschenbroda gehörte dieser Partei nicht an und wurde also gar nicht erst gefragt. Es heißt sogar, es habe schon ein Wagen bereit gestanden, den Ungeliebten nach Hohnstein ins KZ zu bringen. Der damalige Ortsgruppenführer, der trotzdem ein anständiger Mensch gewesen sein soll, heißt es, habe ihn gewarnt. Alles in allem liegt noch so vieles im Dunkeln, daß es sich lohnt, in den nächsten 25 Jahren alles ordentlich aufzuarbeiten, um dann ein würdiges Hundertjähriges feiern zu können.

Grund zum Feiern jedenfalls ist durchaus gegeben.

Im Ergebnis ist hier nämlich etwas zusammengewachsen, was zwar so nie zusammen gehört hätte, aber dennoch lebensfähig ist. Und lebensfähig heißt hier: Es ist eine gemeinsame Identität gewachsen, es hat sich ein gemeinsames Ortsbewußtsein gebildet: Selbst die Kötzschenbrodaer sind zuerst Radebeuler.

Aus der Art des flächenhaften auf einander zu Wachsens resultieren freilich auch all die markanten städtebaulichen Problemzonen, die die Bürgerschaft so gar nicht zur Ruhe kommen lassen. Zuerst das Vakuum: Es fehlt ein Zentrum. Dafür gibt’s ausreichend infrastrukturelle Zersplitterung, und es gibt diese Straße, die Meißner Straße. Sie könnte das einigende Band darstellen, am Ende aber trennt sie mehr, als sie vereint. Es wird noch viel Kraft kosten, ihren Ausbau zur Schnellstraße dauerhaft zu unterbinden.

Ohne die vor 75 Jahren vollzogene Vereinigung hätten wir diese Probleme nicht. Unser Zentrum läge auch irgendwo zwischen Frauenkirche, Residenzschloß, Semperoper und Zwinger. Die Waldschlößchenbrücke ginge uns wirklich etwas an, und die von Naundorf nach Cossebaude befände sich noch ebenso tief im Planungssumpf wie die zugehörigen Straßen (wieso haben wir diese Brücke eigentlich so frag- und klaglos hingenommen? Immerhin gleicht sie in ihrer Form auffällig einem Entwurf für die Waldschlößchenbrücke, der 1988 aus einem Wettbewerb als Sieger hervorgegangen und 1990 als »nicht mehr zeitgemäß« verworfen worden war).

Das Fehlen eines städtischen Zentrums ist jedoch durchaus nicht nur von Nachteil. Es erfordert von der Stadtplanung unausgesetzt erhöhte Aufmerksamkeit. Jedes noch so kleine Ungleichgewicht wirkt sich sofort aufs Ganze aus. Als damals bei den Vier Jahreszeiten neu gebaut werden sollte, wurde wider besseres Wissen die Baumasse von Glasinvest als Maßstab genommen. Jetzt soll Glasinvest abgerissen werden. Deren Maßstab jedoch wurde ja lange vorher schon auf die Vier Jahreszeiten übertragen. Ein Schelm, wer Arges dabei denkt. Der Zeitgeist ist ein flüchtiger Gesell, schwer zu greifen und insbesondere im Elbtal von allen Winden zerblasen. Folgerichtig tut sich die Stadt selbst schwer mit ihrem Jubiläum. Allein das Kulturamt hat die Bürger aufgerufen, einmal mit wachen Augen durch die Stadt zu gehen.

Wir haben das getan, gemeinsam mit dem Kunstverein. Und wir sind mal wieder über einen Stein gestolpert:

Einen schlichten Sandsteinquader, 60 cm hoch, 56 cm breit und 32 cm stark – er stand einst auf einem Sockel auf dem alten Friedhof in Radebeul-West. Er war mit einer Deckplatte versehen und trug auf seiner Schauseite eine Inschrift. Der Text ist stark verwittert, er lautet u.a.: August Joseph Ludwig Graf von Wackerbarth, geb. zu Koschendorf am 7. März 1770, gest. zu Nd. Lössnitz am 19. März 1850. Menschengeschlechter ziehen vorüber wie die Schatten vor der Sonne …

Gestiftet hatte das Denkmal der einzige (uneheliche) Sohn des »Dahingeschiedenen«, Teut von Wackerbarth »aus kindlicher Liebe und Verehrung«. Der Verewigte war ein Großneffe des berühmten Feldmarschalls gleichen Namens, dem wir Wackerbarths Ruhe verdanken.

Irgendwann war der Stein dann von seinem Sockel gerutscht, und der rührige Radebeuler Altertumsfreund Gottfried Thiele hatte ihn in die Bildhauerwerkstatt Bollenbach getragen. Hier hoffte er, ihn nach und nach – so wie er solvente Helfer fände – restaurieren lassen zu können, um ihn dann wieder an seinen Ort zurückzubringen. Es war Gottfried Thiele nicht vergönnt, dies Werk zu vollenden. Nun wollen wir es versuchen.

Und wenn es geschehen sollte, daß am Ende dieses gerade begonnenen Jahres der Stein wieder gefestigt am alten Platze steht, so verdankt Radebeul dies nicht nur den beiden genannten Vereinen, sondern auch seinem 75. Geburtstag. Der nämlich hat uns aufmerksam werden lassen.

Thomas Gerlach

[V&R, 1/2010, S. 2f.]

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