»Ist das nicht wieder ein schöner Tag?«

Die Radebeuler Schriftstellerin Tine (»unsere Tine«) Schulze-Gerlach wird neunzig

Zum neunzigsten Male sieht sie den Frühling mit Riesenschritten herankommen, erlebt, wie die Sonne von Tag zu Tag an Kraft gewinnt, beobachtet, wie die warmen Strahlen die grünen Grasspitzen und die ersten Frühlingsblumen hervorlocken. Zum neunzigsten Male auch versammelt sich die stetig anwachsende Familie um sie, mit ihr gemeinsam das Osterfest und dann – was noch weit wichtiger ist – ihren Geburtstag zu feiern. Vier Kindern schenkte Tine Schulze-Gerlach das Leben. Da ging sie noch einer anderen Profession nach und die Schriftstellerei war noch Zukunftsmusik, obwohl ihr das Talent dazu in die Wiege gelegt war. Später dann wurde sie eine »Schreibende« und erschrieb sich mit einer Anzahl großartiger Bücher einen bedeutenden Namen, den man heute im Lande mit Hochachtung ausspricht.

Tine Schulze-Gerlach 2010

»Gaukler wollt ich sein, fahrender Spielmann, nach Usedom wollt ich…!« erinnerte sich Tine Schulze-Gerlach noch vor wenigen Jahren in einem Gedicht an ihre Kindheitsträume. Sie hat sie später alle wahr gemacht und schipperte dann gar – die Zeitenwende 1990 machte es möglich – hinüber nach Helgoland.

»Abschiedskrümel II« hatte sie ultimativ über ihr letztes Buch geschrieben; es erschien im Mai 2004, kurz nach ihrem 84. Geburtstag und trug den Titel »Deine Horizonte«. Im Titelgedicht stellt sie sachlich fest »Deine Horizonte suchtest Du aus, als Du jung warst, ›unbereubar‹.« Einen Rückblick ohne Wehmut leistet sie sich mit ihrer Lyrik und das will schon was heißen. Doch so war sie wohl schon immer, ehrlich und direkt.

Tine Schulze Gerlach saß mit am Tisch, als wir in Radebeul Anfang 1990 die neue »Vorschau« aus der Taufe hoben. Da war sie immerhin schon siebzig und längst eine Berühmtheit. Immer wieder steuerte sie zu unserem Monatsheftchen erfrischende Erzählungen und Gedichte bei. Als wir bei ihr anfragten, ob sie Ehrenmitglied unseres Vereins werden wollte, sagte sie gerne ja und hat uns damit eine große Ehre erwiesen.

Sie war bei unseren Jahresabschlussfeiern dabei, bis sie sich dann in bestimmten Jahreszeiten und bei ungewissem Wetter nicht mehr aus dem Haus traute. Seither besuche ich sie einmal im Monat in ihrer kleinen Wohnung im Haus ihres ältesten Sohnes auf der Karl-Liebknecht-Straße. Dann bringe ich ihr jedes Mal die neueste Ausgabe von »Vorschau & Rückblick« vorbei, auf die sie bereits sehnlich wartet. Regelmäßig empfängt sie mich mit der Frage »Ist das nicht wieder ein schöner Tag?«, um gleich darauf in ihre Küche zu wuseln. Dort kramt sie einen Moment herum und kommt dann mit einer Flasche Whisky – Glennfiddich oder Ballantine’s (»der ist aber nicht ganz so gut«, kommentiert sie mit Kennermiene) – zurück. »Du trinkst doch einen mit, oder?« Natürlich stoße ich mit ihr an, der rauchige Geschmack des Whiskys löst die Zunge, und wir verlieren uns im Gespräch. Die Themen gehen uns nicht aus – Familie, Garten, Urlaub, unsere Stadt, Erinnerungen –, und kein Gespräch geht zu Ende, ohne dass wir nicht wenigstens einmal auch die Literatur berührt hätten.

Ein Stündchen mit Tine und die Sorgen sind verflogen. Sie ist das, was man als einen durchweg positiven Menschen bezeichnen könnte. Bis oben hin voll Optimismus, »auch wenn der alte Body nicht mehr so richtig will«, wie sie sagt. Dabei lächelt sie verschmitzt, von Larmoyanz keine Spur.

Am 21. April wird Tine Schulze-Gerlach neunzig – was für ein Reichtum an gelebten Jahren. Wir gratulieren von Herzen und voller Bewunderung!

W. Zimmermann

[V&R 4/2010, S. 6f.]

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