Faust als mediales Gedächtnisprotokoll

Zur Premiere von »Faust I« an den Landesbühnen Sachsen

Goethes »Faust« – ein Fels im Kanon der deutschen Literatur und altbekannter Schulstoff. In der jüngsten Landesbühneninszenierung (Regie Arne Retzlaff) wird der chronologische Erzählstrang der Tragödie zugunsten von reflexionsartigen Rückblenden zerschnitten. Eine Videokamera bleibt unentwegt auf Faust und seinen Stuhl fixiert. Der Zuschauer hat beides vor Augen, den Erzähler und sein monströses Abbild auf transparenter Projektionsfläche. Die Ausstattung von Stefan Wiel setzt auf Schlichtheit. Eine nüchterne, industriehallenartige Konstruktion markiert den neutralen Bühnenraum, mit teils in die Unendlichkeit weisenden Fluchten, eine Gazewand als Tor zwischen den Welten trennt außen und innen, dort und hier, Erinnerung und Wirklichkeit.

Faust I an den Landesbühnen Sachsen (Foto LBS)

Die skelettierte Textfassung blendet ein weites Figurenarsenal aus und konzentriert sich auf die Zentralgestalten Faust, Mephisto und Gretchen – Teufelspakt und Liebestragödie. Damit entstehen kompositorische Freiräume. Dialogisch konzipierte Stellen des Originaltextes etwa fließen streckenweise in die monologische Binnenwelt Fausts ein, sodass dessen innere Zerrissenheit und Bitternis noch klarer hervortreten. Olaf Hörbe als alter Faust präsentiert mit einsamen Monologen eine ausgedehnte Exposition. Eine raffiniertere Auslotung der bekannten Texte wäre im Rahmen der unkonventionellen Konzeption wohl spannender gewesen. Seine Erinnerungen spulen sich durch Lebensschichten, die im Bühnenhintergrund von chorischen Szenen begleitet werden. Hier zeigt sich ein Kaleidoskop von Gestalten, die eine stringente zeitliche Verortung vermissen lassen. Auerbachs Keller in tumber Biertischatmosphäre und Osterspaziergang, als Fitnessstudio skizziert, bleiben Fenster zu einer unzugänglichen, fremden Welt. Der Widerstreit zwischen suchender intellektueller Abgeschiedenheit und der Zerstreuungslust des gemeinen Volkes erscheint unauflösbar.

Retzlaff bedient sich zeitlicher und optischer Überblendungen, die Faust zunächst noch in den Garten seiner Kindheit mit frommer gottesfürchtiger Kinderseele zurückführen, bevor er sich in der Abkehr vom Glauben mit dem Teuflischen verbindet. Erst mit Erscheinen Mephistos werden weltliche Begehrlichkeiten geweckt, denen er sich fortan nicht mehr entziehen kann und will. Mario Grünewald spielt den Widerpart mit einer ausladenden dämonisch-heiteren Präsenz, die das Stück über weite Teile zusammenhält. Mit gleichem Kostüm ist er nicht nur rein äußerlich als Alter Ego Fausts erkennbar. Er ist Freund, Kumpel und feiert schließlich als Entertainer mit dem jungen Faust im Rausch der Walpurgisnacht eine geradezu orgiastische Verbindung.

Nicht nur die Ruhe ist hin... (Foto LBS)

Dramaturgisch geschickt ist die Zweiteilung des Abends: Während im ersten Teil der alte Faust in Gram mit sich und Mephisto ringt, gibt nach der Stückpause mit seinem jüngeren Ich die Liebestragödie konsequent ihren Auftakt. René Geisler spielt ihn mit jugendlicher Lässigkeit, die alle Weisheit seinem Eroberungswillen geopfert hat. Vor allem in der anfänglich zart aufkeimenden Liebesgeschichte wartet die Inszenierung mit einer eindrucksvollen Bilderwelt auf. So sanft ihre erste Begegnung ist, umso ergreifender werden die Brüche Gretchens mit dem Verlust ihrer Familie. Dörte Dreger zieht von kindlicher Unschuld bis zur existentialistischen Ekstase einen weiten Spannungsbogen. Mit der Tötung ihres Kindes wird der in ihr aufsteigende Wahn letztlich auf die Spitze getrieben. Symbolhaft streut sie sich die Asche ihrer verlorenen Leibesfrucht – und damit ihrer eigenen Existenz – aufs Haupt. Am Ende der Rückblende sitzt der alte, nunmehr gebrochene Faust, wieder auf seinem Stuhl, auf welchen er vor dem finalen Black durch ein Anatmen, etwas uneindeutig, wohl auf den Fortgang der Tragödie verweisen will.

Insgesamt bleibt der Eindruck einer durchaus interessanten Neuauflage, die aber trotz der teils aufwendig geschaffenen Bilderwelt insbesondere in der zweiten Hälfte mehr Straffung vertragen hätte.

Nach dem Applaus verließ das Ensemble den Saal unerwarteterweise durch den Zuschauerraum, um das Publikum vor den Toren des Hauses für eine Petition zu gewinnen, die sich gegen den drohenden Kulturabbau richtet. Wie wichtig ist uns Kultur? – Vielleicht eine an Bedeutung gewinnende Gretchenfrage unserer Zeit.

Sascha Graedtke

[V&R 12/2010, S. 22f.]

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