Eine Emigration aus Labenbrod

Jörg Bernig hat in Kötzschenbroda seinen neuen Roman vorgestellt

Nach einer ganzen Reihe von Ehrungen in der weiten Welt erhielt Jörg Bernig dann im vergangenem Herbst auch den Kunstpreis von Radebeul, wo er sich als Schriftsteller niedergelassen hat. Sein literarisches Werk ist hier entstanden. Das sind drei Gedichtbücher, vier Romane und ein Essayband. Die landschaftlichen und kulturhistorischen Beziehungen von Radebeul, aber auch ganz beiläufige Beobachtungen auf den Wiesen und Mauern von Kötzschenbroda, speisen manche seiner Gedichtzeilen. Im letzten Roman „Weder Ebbe noch Flut“ (2007) schrieb er über Karl Mays Leben in „ … einem Elbnest unter sächsischen Weinbergen und keine Stunde von Böhmen, von Schlesien entfernt, so abgelegen, so randlägerig und aus der Welt. Was wollte einer da schon tun, als zu erfinden, da an diesem nördlichten Punkt eines sehr fernen Südens…“ Karl May hat aus dem Fernliegenden und Unerlebten eine eigene Welt erfunden. Jörg Bernig bedient sich für die Welt seines neuen Romans der Topografie und des Milieus von Radebeul. Der Schriftsteller findet den Schlüssel zu den Geheimnissen des menschlichen Sein im Naheliegenden und selbst Erlebten. Darüberhinaus ist „Anders“ kein Schlüsselroman, der zum Stöbern nach personellen Ähnlichkeiten einlädt.

Signierstunde mit Jörg Bernig Foto: S. Wittwer

Signierstunde mit Jörg Bernig
Foto: S. Wittwer


Die vierhundert Seiten des Buches lesen sich spannend und bergen überraschende Wendungen. Der Handlungsort Labenbrod hat in der slawischen Sprache keine andere Bedeutung als Elbefurt. Natürlich ist der Heimatfreund berührt, wenn die Labenbroder Lokalitäten beschrieben werden. Das besondere Licht, wie es durch die großen Scheiben der Schwimmhalle dringt, in der sich Peter Anders regelmäßig verausgabt um alles hinter sich zu lassen. Der dreieckige Platz vor dem Gymnasium und der Springbrunnen, der an dessen Fassade plätschert. Das neue Siedlungsgebiet, wo Einfamilienhaus an Einfamilienhaus steht. Die lange gerade Treppe mit dem Pavillion voller Sinnsprüche über den Wein und der Ausblick auf ein Tal, dass von Fernzügen durchfahren wird. Diese Schilderungen haben für den Einheimischen natürlich einen besonderen Reiz. Uwe Tellkamp hat 2008 in „Der Turm“ den aus der Zeit gefallenen Saum der Stadt geschildert. Jörg Bernig schafft mit seinem Labenbrod ein geografisches und atmosphärisches Gegenüber. Weit bedeutsamer als die Häuser, Gärten und Plätze ist die Stimmung, welche die Labenbroder umfangen hält.

Peter Anders ist Geschichtslehrer an einem Gymnasium. Seine Frau Susanne ist in einer Bank in der Abteilung für Kreditvergabe an Handwerker und Mittelständler tätig. Die Kinder sind schon aus dem Haus. Die befreundete Paare sind Ärzte, Architekten, Ladenbesitzer, Pfarrer und Weinhändler. Bei den gemeinsamen Feiern fällt ins Auge, wie die Zeit verstreicht. Der Alltag nimmt ungerührt seinen Fortgang. Die täglichen Herausforderungen saugen alle Kräfte auf. An einem Epiphanias-Tag bricht das Schicksal herein. Der Schuldirektor Bruck liest Kollegen Anders in seinem Dienstzimmer einen Elternbrief vor. Angesichts einer ungerechtfertigten Denunziation durch eine Schülerin wird ihm klar, dass er von Vorgesetzten und Kollegen keine Loyalität zu erwarten hat. „Der Brief hatte eine Schneise in die Zeit geschlagen und Bruck hatte den Brief ganz wie der Vollstrecker einer höheren Gewalt vorgelesen,… Das war der Augenblick, in dem die Zeit in ein Davor und ein Danach zerfallen war.“ Er zieht sich in sich selbst zurück. Währenddessen wird Susannes Tätigkeit in der Bank von den Folgen der Wirtschaftskrise unterhöhlt. Nach dieser sinnentleerten Beschäftigung trifft sie zu Hause auf einen Mann, der sich erstarrt über sein Unglück krümmt. Die Lebensbahn der als Ehepaar gealterten Liebesleute fängt an auseinander zu driften. Anders verschwindet in der Landschaft seiner Kindheit. An einem Lausitzer See bleibt sein offenes Fahrzeug zurück. Zurückgelassen hat er aber auch seine stumme Wehrlosigkeit. Während diese daheim ihre Beute sucht, findet der Totgesagte Aufnahme in einem Bereich selbstverständlicher Ruhe. Der Gedächtnisverlust ebnet ihm diesen Übergang. „Möglich, dass es dieses Rätselhafte war, das sie irgendwie miteinander verband. Überall sonst gebärdete sich die Zeit als die Zeit nach den Rätseln. Es genügte, eine x-beliebige Zeitung aufzuschlagen, und schon wurde einem gesagt, dass noch das letzte Geheimnis bald gelüftet sei. War das nun ein Versprechen oder war das Drohung?“ In „Niemandszeit“ (2002) hat Bernig schon einmal die Möglichkeit eines außerhalb der linearen Zeit gelegenen Seins beschrieben. Dort war es ein Dorf in Deutschböhmen, das die letzten Kriegstage von der Welt getrennt hatte. Die Beschreibung dieser Möglichkeiten voller Dichte aber ohne Dauer ist ein Grundmotiv seines Schreibens.

Am 14. November hat der Autor im dicht gefüllten Luthersaal in Kötzschenbroda aus seinem Roman gelesen und die Neugier auf das Buch geweckt. Claudia Pätzold umrahmte seinen Vortrag mit ihrem Klavierspiel. Im Anschluss nutzten viele Besucher die Gelegenheit am Tisch der Radebeuler Bücherstube den druckfrischen Band zu erwerben und vom Autor persönlich signieren zu lassen.

Sebastian Hennig

Jörg Bernig. Anders. Roman. Gebunden, 405 Seiten, Mitteldeutscher Verlag 2014, 19,95 €

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