Vom Einhorn (für S)

Das Einhorn wirft einen Schatten auf die Uhr. Die Welt riecht nach Frühstück.

Ohne weiter auf die Blicke der Neugierigen zu achten, steigt Susanna aus dem Bade, aufrecht, stolz und schön. Sie streift ihr Kleid über, schlingt sich, etwas verfrüht, das herbstfarbene Seidentuch um den Hals und schwingt sich aufs Fahrrad. Es ist eins von den elektrischen, ihr Fahrrad, mit dem sie ohne Mühe jeden Anstieg meistert, vor allem den kleinen Hügel vor ihrem Haus. Bergab aber rollt es von allein.

Der Morgen ist wie von Seide: Ein Sonnabend ohne Verpflichtung, die Sonne strahlt, die Luft ist sanft. In den Apfelbäumen beschäftigt sich ein Meisenpaar mit der Erziehung seiner zweiten Brut. Der gewissenhafte Ernst, mit dem die kleinen Wesen ihr Geschäft betreiben, hat etwas Rührendes. Susanna vertreibt die Wolke Melancholie, die sich auf ihre Seele setzen will und wirft den eifrigen Eltern ein paar fröhliche Grüße zu.

Die Straße führt durch erntereife Felder, ein paar späte Kornblumen leuchten blau, und wenn Susanna jetzt einen Hut hätte, sie würfe ihn in die Luft. Es gibt solche Tage. Sie sind selten genug.

Nach einem heiteren Plausch mit der Bäckersfrau nennt sie einen Beutel Semmeln ihr Eigen und macht sich auf den Heimweg. Obwohl sie sich auf den Honig freut, den Elvira, wie sie vermutet, in genau diesem Moment auf den Tisch stellt, hat sie zu Eile keinen Anlaß. Mit weit geöffneten Nasenflügeln saugt sie die herrliche Ernteluft ein. Gemütlich rollt sie mitten auf der Straße ihrem Heim zu, bis sie den großen schwarzen Wagen hinter sich bemerkt. Sie rückt brav zur Seite und winkt den Großen fröhlich vorüber. Der Fahrer tritt aufs Gaspedal und ist mit einem Satz an ihr vorbei. Benommen blinzelt sie in seine Staubwolke.

Wie sie um die Kurve rollt, steht das schwarze Dings vor ihrer Einfahrt. Sie steigt ab, zwängt sich an dem Koloß vorbei. Da bemerkt sie den Fahrer, der sich am Tor zum Nachbargarten zu schaffen macht.

Ach, guten Morgen, Herr Einhorn, ruft sie fröhlich, ist das nicht ein herrlicher Tag heute!

Eisborn, knurrt der Angesprochene zurück.

Oh, Entschuldigung! Guten Morgen, Herr Eisborn, ist das nicht ein herrlicher Tag heute?

Frauen, antwortet der Nachbar und richtet sich zu ganzer Größe auf, Frauen machen ja ohnehin alles falsch, aber im Straßenverkehr sind sie unerträglich. Besonders auf Fahrrädern!

Susanna stutzt einen Moment. Recht haben Sie, Herr Einhorn, sagt sie dann. Wissen Sie, ich sage immer, Frauen sollte die Teilnahme am Straßenverkehr gesetzlich verboten werden. Sie können ja mal ein Gesetz einbringen, Sie sind doch Fraktionär, oder?

Sie schwingt sich in den Sattel und nimmt spielend den kleinen Anstieg zum Haus hinauf, ohne sich weiter umzublicken.

Leute gibt’s, sagt Susanna, und steigt, ohne sich um die Blicke der Neugierigen zu kümmern, ins Bad, während Elvira auf der Terrasse den Tisch fertig deckt. Das Einhorn knabbert inzwischen an der neuen Rose …

Thomas Gerlach

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