Auf dem Holzweg
(späte Erinnerung an Farben-Öhme)
„… er (der Gegenwartsbewußte) sieht in jeder Verlagerung der Aspekte einen Fortschritt, selbst wenn ein Verlust gewisser kultureller Grade unleugbar ist“.
Dieser Halbsatz, mit dem Karl Kröner in seinem grandiosen Aufsatz „Die Lößnitz. Gestalt und Wirkung einer Landschaft“ (1954) gleich zu Beginn ein Ausrufezeichen setzte, begleitet mich seit Jahren. Nun, da ein neuer Frühling sich anheischig macht, allerorten die Bäume wieder zu begrünen, steht er mir wieder deutlich vor Augen. Vom Faß aus mit einem Glas in der Hand das Werden zu meditieren, macht den Verlust des Winters (falls es denn einer war) zur Lust. Das Ausbleiben der Minus-Grade stimmt eher heiter, dies umso mehr, wenn einer wie ich aus der Schneeballzeit langsam rausgewachsen ist.
Aber weil wir gerade von Verlusten reden:
Durch das langsame Verschwinden des familienbetriebenen und -getragenen Einzelhandels geht sicher mehr verloren, als nur „gewisse kulturelle Grade“.
In einem sehr warmen und einfühlsamen Beitrag hat Karin Baum im Märzheft von einem Geschäft Abschied genommen, das eigentlich aus dem Stadtgefüge gar nicht wegzudenken war: Farben-Öhme. Jeder Radebeuler, der auch nur einmal versucht haben sollte, seine vier Wände „in Eigenleistung“ mit Farbe zu versehen, kannte das Geschäft auf der Moritzburger Straße. Und obwohl die eifrigen Heimwerker dank der „Verlagerung der Aspekte“ im Handelsgeschehen sicher auch künftig nicht in leere Farbeimer gucken müssen, „ein Verlust …“ na, u.s.w.
Was mir an Karins Beitrag gefehlt hat, war der Hinweis auf ein Gelegenheitsgeschäft, mit dem Farben-Öhme vor 1990 immer wieder auf wundersame Weise empfindliche Versorgungslücken zu schließen vermochte:
Manchmal gab es Holz.
Latten. Schmale Bretter.
Einfach Holz.
Gern und oft denke ich an den seltenen und deshalb unvergesslichen Anblick zurück: Auf dem abendlichen Heimweg vom Bahnhof sah ich die Schlange vorm Laden schon von Weitem. Und ich sah auch die Latten ragen über die damals blecherne Abgrenzung hinaus. Logischerweise unterbrach ich meinen Heimweg und stellte mich auch an. Was mir beim Bäcker schlechte Laune bereiten konnte, hier hellte es mein Gemüt auf. Nach angemessener Wartezeit, mit einem portionierten Holzstapel auf der Schulter und mit Dankbarkeit im Herzen vollendete ich meinen Heimweg. (In einem der aus solchem Holz gebastelten Regale stehen heute meine fünfunddreißig Jahrgänge V&R).
Es liegt nahe, daß der Holzhandel später rasch und gründlich von anderen übernommen wurde. Die Erinnerung aber an das Glücksgefühl das mich allemal überrieselte, wenn ich mit meiner Beute auf der Schulter den heimischen Hof erreichte, ist immer noch lebendig. Mit ihr im Rücken ist der durch die endgültige Schließung zu beklagende „Verlust gewisser kultureller Grade“ einfach besser zu ertragen.
Prost.
Thomas Gerlach