Der Mai
Am ersten Mai wurden wir
mit Marschmusik geweckt und stürzten an die Fenster. Drüben auf dem Bahnhofsvorplatz hatte sich eine Kapelle aufgebaut und in der Maisonne glänzten die Instrumente. Die Häuser waren mit grünen Girlanden geschmückt, auch unsere Veranda am Augustusweg. Vorn am Gaststätteneingang hatte Vater links und rechts in großen Gurkenblecheimern Birkenbäumchen aufgestellt. Überall wehten Hakenkreuzfahnen und Vater hatte auch schon an den Masten – einer stand an der Hausseite auf dem Augustusweg, der andere größere links vom Hoftor – unsere Fahnen hochgezogen. Für uns Kinder immer ein großes Ereignis. (Der Text ist im Kontext seiner Enstehungszeit zu lesen! Anm. d. Red.)
Ich kann mich gut erinnern, dass am ersten Mai, der Feiertag der Arbeit, unter den Menschen eine frohe und festliche Stimmung herrschte. Es war schon ein Unterschied zu den Demonstrationen, die wir später mitmachen mussten. Dazu muss ich aber sagen, dass wir dabei immer unseren eigenen Spaß entwickelten.
Für uns Kinder war es auch ein großes Ereignis, wenn am Vortag der riesige Maibaum auf dem Langholzwagen in die Roseggerstraße bugsiert wurde. Er wurde auf dem Sportplatz der Hans-Schemm-Schule (Gymnasium) aufgestellt, wo auch die Kundgebung stattfand. Als diese zu Ende war, hatte jeder im „Weißen Roß“ alle Hände voll zu tun. Die Massen kamen durstig angeströmt. Vater hatte vor dem Haus zusätzlich lange Bretter auf Bierfässer gelegt und alle Sitzgelegenheiten waren bis auf den letzten Platz besetzt.
Am Vorabend wurden auch in allen Häusern Hindenburglichter (heute sagt man Teelichte dazu) in langen Ketten in die Fenster gestellt, das sah wunderschön aus. Muttel nahm sich die Zeit und machte mit uns einen abendlichen Rundgang.
Wir begannen nun auch wieder viel draußen zu spielen. Als unsere lieben Verwandten aus Palästina zu Besuch da waren, Onkel Rudolf und Tante Herta Weller mit Kuno, Ingrid und Irene, brachte uns Ingrid das Huppekastenspiel bei. Das haben wir mit immenser Ausdauer gespielt. Mit Kreide wurde auf der Betonfläche unterm Balkon acht Quadrate, je zwei nebeneinander gemalt. Darüber ein Halbbogen. Das war der Himmel, in den man sich retten konnte. Der war aber schon im Sand gezogen. Nun mussten mit artistischen Können alle Quadrate benutzt werden, ohne auf die Trennstriche zu treten. Zum Beispiel musste auf einem Bein gehüpft werden und auf dem hochgezogenen Fuß lag ein Stein, den man dabei nicht verlieren durfte und der Gläsli genannt wurde. Da Kuno und Ingrid schwäbelten, nannte sich diese Übung Gläsli, weil der Stein eigentlich ein Glas darstellen sollte. Dann kam „Tapp i“ dran, das war sehr schwer. Man musste mit geschlossenen Augen, den Kopf im Genick die Felder durchqueren, ohne auf die Trennstriche zu treten. Die anderen achteten peinlich darauf, dass nicht geschummelt wurde. Und so gab es noch einige weitere Schwierigkeiten und wer alles fehlerfrei überstand, konnte sich ein Feld aussuchen. Das versah er mit zwei Kreuzstrichen und konnte sich im Himmel ausruhen. Das wurde nun wieder für die anderen schwierig, denn sie durften nicht auf die gekreuzten Striche treten. Wer nicht fehlerfrei durchkam musste wieder von vorn anfangen. Sieger war, wer die meisten Felder besaß.
Zu unserer großen Überraschung kaufte Vater uns bei Gommlich gegenüber Kinderfahrräder. Zunächst als Dreiräder, später wurde die Querachse entfernt und so balancierten wir auf zwei Rädern. Diese Räder besaßen keinen Freilauf und leider auch keinen Kettenschutz. Die Pedalen drehten immer mit. Und so geschah es, dass ich einmal unter mörderischen Gebrüll den Hof hinunter fuhr, denn der große Zeh klemmte in der Kette. Der Zehennagel war natürlich hin. Ein Fahrer von Bischoffs fing mich auf und befreite mich aus meiner Zwangslage. Wie, weiß ich nicht mehr, ich hatte mit Brüllen zu tun. Wahrscheinlich hatte er die Pedale rückwärts gedreht, weher konnte es schon nicht mehr tun. Vater fuhr Muttel und mich mit seinem Opel Baujahr 1928 zu unserer bewährten Kinderärztin, Frau Doktor Hartung, das beruhigte mich schon einigermaßen. Wir gingen gern zu ihr, weil es am Ende der Untersuchung immer mit buntem Zucker bestreute Schokoladenplätzchen gab.
Wenn wir uns wahrscheinlich recht gut aufgeführt hatten, gab uns Muttel jedem einen Groschen und wir stürmten los zu Mallows, geradeüber der Rosenstraße. Es waren zwei Schwestern, die einen Doppelladen hatten. Das eine Fräulein Mallow hatte ein Schokoladengeschäft, das andere eine Papierwarenhandlung. Die war das Ziel unserer Wünsche. Gegenüber der Eingangstür stand ein großer Schrank mit schmalen Schubfächern. Freundlich zog Fräulein Mallow eins davon auf und vor uns lag die ganze Pracht der Zehnpfennigartikel. Das gab es Trillerpfeifen und kleine Kompasse, Geduldsspiele, bei denen die Maus in die Falle oder der Fußball ins Tor gebracht werden musste. Abenteuerliche Bleistiftspitzer, Stammbuchblümchen (heutigentags Sticker) und was sonst noch einem Kinderherzen in diesem Alter wichtig ist. Wir wählten lange und bedächtig, dann rannten wir mit unserer Auswahl beglückt nach Hause.
Das waren so die Erinnerungen, sie es in den Maimonaten in meiner Kindheit gab.
Christa Stenzel/ Christian Grün