Betrachtung einer künstlichen Ruine in Radebeul

Am Ende meines Berichts in V+R 01/14 über die obere Turmruine im ehemaligen Bilzgrundstück Augustusweg 110 hatte ich nicht ausgeschlossen, auch einmal über die künstliche Ruine, also einen zweiten Turm, im gleichen Grundstück „Jägerberg“ zu schreiben.

Ruine in Hantzschs Weinberg in der Lößnitz, 1852, Bild:  M. Schleinitz

Ruine in Hantzschs Weinberg in der Lößnitz, 1852, Bild: M. Schleinitz

Nun denn, es war nicht F. E. Bilz, auf den die beiden Türme zurückzuführen sind (als er 1898 dieses Grundstück erwarb, standen sie bereits), sondern es war der Dresdner Weinhändler und Eigentümer des Anwesens August Traugott Hantzsch, der 1844 zusammen mit dem Dresdner Architekten und Freund Woldemar Hermann diese Idee hatte und sie auch sogleich baulich umsetzte. Im weitläufigen Grundstück befinden sich die Türme in unterschiedlicher Lage am Steilhang – während der Aussichtsturm an der oberen Kante des Elbtalhanges steht, finden wir die künstliche Ruine in halber Höhe des Steilhanges mitten im Wald, der früher einmal ein Park war.

Wie aber kam es, dass man in einer bestimmten Zeit künstliche Ruinen baute? Sollte der Bau mit den gotischen Fenstern eigentlich mal ein komplett nutzbares Gebäude werden und das Geld ging dem Bauherrn auf halbem Wege aus? Nein, das war hier und auch andernorts bei künstlichen Ruinen sicherlich nicht der Fall. Sie sollten, ähnlich einer Theaterkulisse, im Zeitalter der Empfindsamkeit (das überschneidet sich etwa in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit der Epoche des Biedermeier) beim Vorbei- und Durchwandeln bestimmte Gefühle und Empfindungen bei den Menschen erzeugen. Eine Parallele dazu finden wir in der Malerei dieser Zeit, vor allem gepflegt von Caspar David Friedrich. Derartige Stimmungen mit gotischen Ruinen (scheinbar eignete sich dieser längst vergangene Baustil gut für die Übermittlung solch sentimentaler Gefühle) sind z.B. in den Werken „Abtei im Eichwald“, 1809, „Klosterhof im Schnee“, 1819, „Huttens Grab“, 1823/24 und „Die Abtei Eldena bei Greifswald“, 1836, von Friedrich zu finden. Außer Friedrich sind hier noch die Zeitgenossen und Malerkollegen Carus, Clausen-Dahl und Blechen zu nennen. In diese Zeit passt auch die Ausgestaltung des Seifersdorfer Tales bei Radeberg. Heutzutage fällt es uns schwer, sich in eine solche religiös-besinnliche, leicht wehmütige, von grauen Farben dominierte Stimmung zu versetzen, doch in der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts war das wohl in Deutschland an der Tagesordnung.

Ein sehr frühes Beispiel einer künstlichen Ruine ist die 1785 auf der Höhe über Pillnitz errichtete, unsere Ruine am Augustusweg dagegen dürfte mit der Datierung 1844 eher das Ende dieser Epoche markieren. Anders als beim Aussichtsturm scheinen hier keine Skizzen oder Bauzeichnungen von Woldemar Hermann mehr zu existieren. Ich glaube aber nicht, dass Maurer und Steinmetze dieses Bauwerk „freihand“, also ohne Plan, hochgezogen haben. Viel später 1852 hat der Architekt dann aber die Ruine im fertigen Zustand als Aquarell, also künstlerisches Blatt, dargestellt. Pfarrer Michael Schleinitz, der Ur-Ur-Enkel von Hermann, hat mir die Verwendung dieses Aquarells für V+R gestattet – leider müssen wir uns die Farben denken. Wenn wir die Ruine da betrachten, können wir vermuten, dass diese im EG einen zeitweilig nutzbaren Raum hatte, was natürlich voraussetzen würde, dass die Decke über dem EG eine Wasserableitung bringen musste, ein Dach war ja nie drauf. Staffagefiguren im Bild lassen vermuten, dass in dem Raum der Ruine kleine Nachmittagsgesellschaften stattfinden konnten oder hier Spaziergänger bei plötzlichem Regen Zuflucht fanden. Die von mir vermutete, frühe Teilnutzung des EG kann aber auch eine künstlerische Freiheit darstellen oder der Fantasie von W. Hermann zuzuschreiben sein. Zu Bilz’ Zeiten wurden Villa, Park und z.T. die Türme durch seine Kurgäste genutzt. Der Zeitpunkt, wann der Raum Fenster und Tür verlor (Verschleiß, Vandalismus?), lässt sich nicht nachweisen. Wir gehen aber sicherlich nicht fehl, uns den Turm für die längste Zeit seines 170-jährigen Bestehens fensterlos, also als „Vollruine“ vorzustellen.

Vielleicht wollte man mit dem gleichzeitigen Bau zweier Türme im gleichen Grundstück den Besuchern die Chance geben, ihre Gefühlswelt zu testen – der obere Turm, damals ganz, glatt verputzt und hell, mit weiter Aussicht stimmte heiter; dagegen erzeugte der untere Turm, Ruine in dunklem Naturstein, eher in schattiger Lage ganz andere Gefühle, ein Denken an die Vergänglichkeit der Welt.

Ruine, 2015, Foto: D. Lohse

Ruine, 2015, Foto: D. Lohse

Der runde, oben unregelmäßig endende Turmschaft aus Syenitsteinen wird ergänzt durch ursprünglich zwei Steinbrücken, die Zugang zum offenen Obergeschoss und Ausblicke ins Gelände gestatteten. Diese Brücken sind auch auf einem Foto von Hellmuth Sparbert aus dem Jahr 1952 noch zu erkennen. Das Plateau am Fuße des Turmes ist im Aquarell hinsichtlich Größe und ebener Fläche idealisiert dargestellt, in Wirklichkeit fällt das Gelände hier stark ab. Einst müssen auch zwei reichlich lebensgroße, männliche Sandsteinfiguren, als Lukas und Matthäus gedeutet, zum Ensemble gehört haben, die im Aquarell leider nicht zu sehen sind. Noch 1981 fand ich den Rumpf einer Figur etwa 10m unterhalb an einer Buche liegend. Beiden Evangelisten werden Fähigkeiten von Pflege und Heilung zugedacht – hatte sie vielleicht Eduard Bilz für seine auch hier wohnenden Kurgäste aufstellen lassen? Aus Sandstein dürften mit Sicherheit auch die Fenstergewände mit neogotischem Maßwerk, Sitzbänke und die Brüstungen an den Brücken gewesen sein. Vieles von dem Zierrat ist allerdings über die Jahre und vor allem in letzter Zeit verloren gegangen, manches ist vielleicht unter Laub und Erde noch zu finden, doch die Gesamthöhe des Turmes ist fast so geblieben. Der Bauzustand ist sehr kritisch geworden, es handelt sich sozusagen um eine „kaputte“ künstliche Ruine!
Wie es mit diesem Kulturdenkmal einmal weitergehen könnte, ist unklar. Sollte es hier jemals zu einer Rekonstruktion kommen, nötiges Geld und entsprechendes Wollen vorausgesetzt, kann das Ziel nur eine gesicherte Ruine sein. Für einen Investor „rechnet“ sich so etwas nicht! Ein schwieriges Feld, auch weil es kaum Vergleichsfälle für die Sanierung künstlicher Ruinen gibt, aber lohnend allemal eben wegen der Seltenheit. Bei der Gelegenheit wäre zu prüfen, ob von dem Wildwuchs der eine oder andere Baum gefällt werden dürfte. Ein paar Bäume könnten das Bauwerk durch Äste oder Wurzeldruck beeinträchtigen und verbesserte An- und Aussicht der Ruine würde man sich dann wünschen. Dann hätten wir einen Ort, wo wir die Gefühlswelt von Caspar David Friedrich ahnen könnten. Selbstverständlich würde ich empfehlen, hierfür das Landesamt für Denkmalpflege mit seinen Spezialisten rechtzeitig einzubeziehen.
An zwei Stellen in Radebeul vermute ich weitere künstliche Ruinen, so im kleinen Park der Diakonie und im Park des Mohrenhauses. Hierzu müsste man sich aber noch näher mit der jeweiligen Geschichte der Orte auseinandersetzen, um künstliche Ruinen nachzuweisen.

Zum Schluss noch der pädagogische Zeigefinger: den Wunsch, den Turm nach Lesen des Artikels alsbald aufzusuchen, muss ich ein wenig ausbremsen – die turmartige Ruine befindet sich in einem Privatgrundstück, d.h., man müsste zum Betreten eine entsprechende Erlaubnis haben; der bauliche Zustand des betrachteten Gebäudes ist sehr schlecht, d.h. wiederum, verschiedene Gefahren für Personen sind nicht auszuschließen; der Weg dahin ist beschwerlich und je nach Jahreszeit auch gefährlich, d.h., er wäre ohnehin nur geübten Wanderern möglich.

Ich bedanke mich sehr herzlich für Auskünfte und Unterstützung bei Herrn Michael Schleinitz, Pfarrer in Lohmen, und bei Herrn Florian Hartfiel, Miteigentümer und Bewohner des „Jägerberg“.

Dietrich Lohse

Quellen:
1. „Aus den Jugendtagen des romdeutschen Baumeisters und Malers Woldemar Hermann (1807-1878)“, Walther Schleinitz, Notschriften-Verlag Radebeul, 2004
2. „Tagebuch meines Wirkungskreises in der Architektur – Woldemar Hermann“, Eckhart und Michael Schleinitz, Notschriften-Verlag Radebeul, 2006

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