(B)RECHT SCHAFFEN

»Der kaukasische Kreidekreis« an den Landesbühnen

Von Schauspielern erwartet der Zuschauer gewöhnlich, dass sie ganz in ihrer Rolle aufgehen. Gute Schauspieler erkenne man daran, so heißt es, dass ihre Persönlichkeit hinter der dargestellten Figur verschwindet. Das bürge für authentische Emotionen, und auf deren Zurschaustellung basiert ein großer Teil der dramatischen Literatur. Nicht aber zum Beispiel der Kaukasische Kreidekreis, eines jener seiner Stücke, die Bertolt Brecht unter den Begriff des »Dialektischen Theaters« gefasst wissen wollte. Lässt man die literaturwissenschaftlichen Feinheiten einmal beiseite und denkt über die von Brecht zugedachte Rolle als Zuschauer in seinem Stück nach, dann stellen sich Anfang und Ende der von Arne Retzlaff mit konzeptioneller Klarheit besorgten Inszenierung so dar: Drei Musiker (Ulrike Drude – Violine, Uwe Zimmermann – Klavier und Paul Hoorn – Gesang und diverse Instrumente) kommen auf die Bühne, und dann beginnt der Sänger seinen Bericht über ein Geschehen (Komposition: Paul Dessau). Die Schauspieler ihrerseits illustrieren dieses Geschehen in ihren Aktionen und Reden und kehren am Schluss wieder in ihre Ausgangslage zurück, wie um zu sagen: Wir könnten auch noch einmal spielen, es bedürfte nur des Signals des Sängers und wir stellen Stimme und Körper noch einmal in den Dienst der Vermittlung dieser Fabel. Denn dem Zuschauer obliegt es, den Vorgängen auf der Bühne (der von Cornelia Just entworfene, sich nach hinten verjüngende Raum ist als variabel bespielbarer Ort angelegt, dessen seitliche Begrenzung als Auf- und Abgänge, als Fensterhöhlen und sogar als beschreibbare Projektionstafeln dienen) zu folgen und sich eine Meinung über den dargestellten Sachverhalt zu bilden, ohne dass es vordergründig Aufgabe der Schauspieler wäre, Sympathien oder Antipathien zu wecken. In dem im Kreidekreis verhandelten Fall geht es übrigens um einen Rechtsstreit zweier Frauen um ein Kind, den Brecht nach biblischer und altchinesischer Vorlage in den Kaukasus verlagerte und vor dem Hintergrund zeitgenössischer Erfahrungen in den 1940er/1950er Jahren dramatisierte (wobei weder Ort noch Zeit der Handlung exakt benannt werden, weil sie schließlich auch nicht wichtig sind). Soweit die Theorie.

Die ästhetische Praxis während der dreieinhalb als kurz empfundenen Stunden zieht den Zuschauer unweigerlich hinein in Ereignisse, denen er nicht ohne innere Anteilnahme und wachsende Anspannung folgen kann. Das liegt daran, dass die Hauptfiguren Grusche Vachnadze (Franziska Hoffmann in ihrer bislang stärksten Rolle an den Landesbühnen) im ersten Teil vor der Pause und Azdak (Michael Heuser mischt in seine Partie als Richter wider Willen eine gehörige Portion Bauernschläue und Sinnesfreude) nach der Pause eigentlich ganz »unbrechtisch« daherkommen und ihre Figuren durch die Akteure bis an die Grenzen des noch Zulässigen »ausgespielt« werden. Ähnlich verhält es sich mit Simon Chachava (Marc Schützenhofer), dem Verlobten Grusches, wobei er nicht wie etwa Grusche neben sich treten und in Gesangsnummern über seine Lage reflektieren kann. Die anderen Figuren (es sind zu viele, als dass sie an dieser Stelle alle genannt werden könnten) werden durch die Regie streng geführt und bleiben ihrem jeweiligen Rollenauftrag treu, ohne jedoch den von Brecht selbst postulierten Grundsatz zu verletzen, wonach sein Theater auf sinnliche und heitere Weise zu unterhalten habe.

Warum ein Brecht, warum gerade dieser Brecht zu dieser Zeit? Noch während des Stückes drängten sich mir die Bilder aus Kirgistan auf, wo Anfang April der Präsident gestürzt wurde und in den Süden des Landes fliehen musste. Unruhen im Land spülten dort neue Machthaber nach oben, noch immer ist die Lage unübersichtlich, der Präsident sammelt gerade seine Getreuen und plant die Rückeroberung der Macht. Überraschende Parallelen zur Ausgangs- und Konfliktlage im Kreidekreis. Gut möglich, dass es auch dort gerade wieder Grusches gibt, die Kinder an sich nehmen, um sie vor dem Verderben zu bewahren, ohne allerdings das Recht dazu zu haben. Die Erfahrung, dass nicht alles, was Recht ist, auch als gerecht wahrgenommen wird bzw. dass Gerechtigkeit immer subjektiv empfunden, Recht dagegen von normativ-objektiver Warte aus gesprochen werden muss, gehört zu den unauflösbaren Widersprüchen unseres alltäglichen Daseins. Insofern bildet der geschickte Kniff, mit dem Brecht den Kreidekreis gut ausgehen lässt und Azdaks Rechtsprechung am Gerechtigkeitsgefühl des Zuschauers entlang erfolgt, ein Zeichen der Hoffnung, dass die Dauerenttäuschung über die Ungerechtigkeiten des Lebens für einmal aufgehoben und ins Gute gewendet wird. So sah es allem Anschein nach auch das Premierenpublikum, das sich mit langem Applaus für einen gelungenen Abend bedankte.

Bertram Kazmirowski

[V&R 6/2010, S.10f.]

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