„Ich betrachte meine Einführung bei Moritz Retzsch als eines der merkwürdigsten und angenehmsten Begebnisse meines kurzen Aufenthalts in Dresden. Dieser außerordentliche Geist, der in England fast eben so beliebt und geschätzt ist wie in seinem Vaterland, scheint von der Natur einen doppelten Teil Erfindungsgabe erhalten zu haben, und verdient sonach ihren auserwählten Günstlingen beigezählt zu werden.“ So schreibt 1834 Mrs. Jameson über ihren Besuch bei Moritz Retzsch. Mrs. Jamson ist Korrespondentin der vierteljährlich in London erscheinenden Zeitschrift ‘Foreign Quarterly Review’ und recherchiert für eine Reihe von Aufsätzen, die unter dem Titel ‘Views and sketches at home and abroad’ erscheinen.
Moritz Retzsch hat zu diesem Zeitpunkt seit zehn Jahren eine Professur für Historienmalerei an der Königlichen Kunstakademie in Dresden, ist aber ebenso als Porträtist bekannt. Internationale Berühmtheit allerdings hat er mit Illustrationen zu Klassikern der Weltliteratur erlangt. Zu den populärsten zählen Goethes ‘Faust’ und Schillers Gedicht ‘Das Lied von der Glocke’. Die Blätter von Retzsch erlangen internationale Verbreitung. Retzsch erhält sogar aus Amerika Zuschriften, die bezeugen, welche Wirkung er mit seinen Illustrationen an der Schnittstelle von Kunst und Literatur erzielt.
Der elf Blätter umfassende Bildzyklus zum ‘Faust’ war bereits 1816 im Verlag von Friedrich Cotta in Stuttgart erschienen und gehört zu den ersten Umsetzungen des Dramas ins Bild. Retzschs Illustrationen wirken für das gesamte Jahrhundert prägend auf das Faust-Bild. Sogar Theaterinszenierungen orientieren sich danach. Ebenso spektakulär und noch weit umfangreicher ist Retzschs Auseinandersetzung zu Schillers ‘Lied von der Glocke’. Hierzu entstehen 43 blattfüllende Illustrationen, die – wie auch schon die zum ‘Faust’ – vom Verlag als gesondertes Mappenwerk herausgegeben werden. Das heißt, sie sind nicht in den Text integriert, sondern stellen einen eigenständigen Bildzyklus dar.
Die Beliebtheit der Illustrationen ist unter anderem in der Art ihrer Ausführung begründet. Retzsch bedient sich hierzu der Umrisslinie. Es ist ein Verfahren, bei dem die Darstellung gänzlich auf Kontur und Binnenzeichnung in durchweg feinen Linien beschränkt bleibt. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist das etwas Besonderes, weil man weitgehendst Kupferstiche gewohnt ist, die mit ihrer akribischen Wiedergabe von Licht und Schatten, Volumen und allerhand Details der Phantasie störend im Wege stehen. Die in solcher Weise ausgeführte Illustration gibt zuviel vor, so dass dem Leser kaum Raum bleibt, seine eigene Vorstellungskraft einzusetzen.
Zum reduzierten Verfahren der Darstellung in Umrissen hinzu kommt, dass Retzsch mit seinen Illustrationen ein Bild seiner Zeit vermittelt, mit dem sich seine Zeitgenossen gerne identifizieren. Handwerksfleiß und bürgerliche Tugenden nehmen in seinen Illustrationen zum Glockenlied einen breiten Raum ein. Retzsch misst ihnen ein bestimmtes Bildformat zu. Alles, was unmittelbar mit dem Glockenguss zu tun hat, wird in einem ovalen Rahmen gezeigt. Szenen, bei denen das individuelle und gesellschaftliche Leben im Mittelpunkt stehen, werden von einem rechteckigen Rahmen umschlossen. Andere Zeichnungen hingegen bleiben ohne Rahmen. Mit den unterschiedlichen Formaten kennzeichnete Retzsch zugleich die Passagen des Gedichtes. Den unterschiedlichen Inhaltsebenen und dem wechselnden Versmaß entspricht er damit in hervorragender Weise und folgt darin der Struktur des Gedichtes. Das hindert ihn aber nicht, mit seinen Illustrationen eine neue Sicht auf das Gedicht zu eröffnen. Beispielsweise treten die Wirkkräfte der Natur personifiziert ins Bild. Schicksalsschwere Ereignisse, wie der Ausbruch eines Feuers, zeichnen sich in der Gestalt von Kobolden zwischen den Wolken am Himmel ab. Vieles, was im Gedicht unanschaulich bleibt, findet bei Retzsch eine phantasievolle und lebhafte Umsetzung.
Phantasie und Technik prägen das Erscheinungsbild seiner Illustrationen. Sie sind es, die Retzschs Ruhm bis in die Gegenwart begründen. Die graphischen Blätter entstehen außerhalb seiner Tätigkeit an der Akademie in stiller Zurückgezogenheit in seinem Haus in den Weinbergen in Hoflößnitz. (Retzschs ehemaliger Wohnsitz ist heute das Weingut Retzsch in der Weinbergstraße, Ecke Retzschgasse.) Hier findet Retzsch Muse und Ruhe, sich dem Zeichnen und neuen Ideen zu widmen. Während er die offiziellen Geschäfte in seinem Atelier in Dresden abwickelt, empfängt er hier Freunde und ihm nahe stehende Personen. Auch seine Frau Christiane hält sich das ganze Jahr über im Weinberghaus in Hoflößnitz auf, führt ihm den Haushalt und wirkt als stille Muse im Hintergrund. Eine Anzahl seiner Zeichnungen sind ihr gewidmet. Sie lässt sie in ein Album binden, das zu besonderen Gelegenheiten, wie Geburtstag und Weihnachten, um weitere Zeichnungen ergänzt wird. In einer kleinen Auflage gibt Retzsch einige davon in späteren Jahren zur Publikation. Als ‘Phantasien’ und ‘Phantasien und Wahrheiten’ finden sie Eingang in ein weiteres Mappenwerk.
Retzschs Bedeutung als Illustrator und seine Rolle bei der im 19. Jahrhundert zunehmend bedeutsam werdenden Popularisierung von Kunst ist ausführlich dargestellt in:
Viola Hildebrand-Schat: Zeichnung im Dienste der Literaturvermittlung. Retzschs Umrißillustrationen als Ausdruck bürgerlichen Kunstverstehens, Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg. Erscheint im Herbst 2004.
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