(K)eine Kirche für Niederlößnitz

Im Mittelpunkt des Gedenkjahres 2014 steht, hier wie überall, die Erinnerung an den Ausbruch des Ersten Weltkriegs vor 100 Jahren. Da geht es fast unter, dass mit Ober- und Niederlößnitz gleich zwei der Ursprungsgemeinden unserer Stadt heuer 175. Geburtstag hätten. Diese Überlagerung ist nichts Neues. Schon die 75. Jahrestage ihrer Konstituierung als politische Gemeinden am 6. bzw. 7. August 1914 – die letzten feierwürdigen Jubiläen, die ihnen als selbständigen Kommunen beschieden sein sollten – waren einst vom Taumel der ersten Kriegswoche überschattet. Und auch das besondere Geburtstagsgeschenk, das sich Niederlößnitz damals machen wollte – am 30. Mai 1914 hatte der Kötzschenbrodaer Generalanzeiger groß getitelt: »Kirchliche Selbständigmachung der Gemeinde Niederlößnitz« –, muss unter die Kollateralschäden der Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts verbucht werden.
Die Idee, in Niederlößnitz eine eigene evangelisch-lutherische Kirche zu errichten, kam schon in den 1880er Jahren auf, die den Übergang von der vergleichsweise locker besiedelten Weinbergsgemeinde zur rapide wachsenden Villenkolonie markieren. Auslöser war wohl die Heranziehung der Gemeinde zu den Kosten des Umbaus der Kötzschenbrodaer Kirche 1884/85, die vielen der Niederlößnitzer Villenbesitzer zu abgelegen erschien. Wenn man schon bluten musste, dann doch lieber für etwas Eigenes. 1895, als mit dem Bau des Niederlößnitzer Rathauses ein erster Schritt in die Respektabilität geschafft war, schenkte der Dresdner Arzneimittelfabrikant und Stadtrat Johannes Paul Liebe der Gemeinde ein Grundstück oberhalb des nördlichen Endes der heutigen Dr.-Külz-Straße als Kirchenbauplatz. Danach kochte die Angelegenheit auf kleiner Flamme weiter, und die Gemeinde bildete in bescheidenem Umfang Rücklagen für den Bau und erwarb einige Nachbargrundstücke, um den Bauplatz zu arrondieren.
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Bewegung kam in die Sache, als sich die Kirchgemeinde Kötzschenbroda, zu deren Budget die mittlerweile fast 5.000 Schäfchen aus Niederlößnitz den größten Posten (über 37 %) beitrugen, während sie im Kirchenvorstand mit drei von 15 Sitzen deutlich unterrepräsentiert waren, durch zwei große Bauprojekte (Friedhof und Kapelle Naundorf-Zitzschewig, 1907/08, neue Friedhofskapelle Kötzschenbroda, 1912/13) gewaltig verschuldete. Überdies war die Anstellung eines vierten Pfarrers speziell für Oberkötzschenbroda und Lindenau im Gespräch (in der Begündung hieß es, man wolle »mit den geistigen Mitteln der Kirche […] dort die Gefahr der Demokratisierung des Volkslebens« eindämmen), was das Kosten-Nutzen-Verhältnis für Niederlößnitz weiter zu verschlechtern drohte. Auch dass die römisch-katholische Kirche und die Apostolische Gemeinde inzwischen in Niederlößnitz über eigene Kapellen verfügten, während das Kötzschenbrodaer Pfarramt einer 1909 vorgetragenen Bitte des 1903 gegründeten »Kirchbauvereins zu Niederlößnitz«, aller 14 Tage in der Niederlößnitzer Schule mit Unterstützung der zahlreichen vor Ort ansässigen emeritierten Pfarrer evangelische Gottesdienste anbieten zu dürfen, die kalte Schulter zeigte, sorgte für Unmut in der Herde.
1912 wurden mit der Einrichtung einer eigenen Gemeindediakonie und der Gründung eines kirchlichen Frauenvereins für Niederlößnitz erste Tatsachen geschaffen, und der Kirchbauverein, in dem seinerzeit Carl Lamsbach (1844-1919) und Kirchenrat P. emer. Wilhelm Zinßer (1836-1914) den Ton angaben, rührte massiv die Werbetrommel für die Forderung nach einer Auspfarrung, die nach Durchrechnung verschiedener Modelle auch Gemeindevorstand Oswald Hans unterstützte. Am 26. Mai 1914 stimmte der Niederlößnitzer Gemeinderat schließlich einstimmig für die Gründung einer eigenen Parochie und legte den Fahrplan fest. Als Gründungstermin fasste man den 1. Januar 1915 ins Auge; ein Pfarrer sollte schon zum 1. Oktober 1914 angestellt werden und eine Amtswohnung in der gemeindeeigenen Villa Rosenhof erhalten. Drängender als der Kirchenbau, für den ein wohlhabender Privatier ein die veranschlagten Gesamtkosten in voller Höhe deckendes Geldgeschenk von 100.000 Mark zugesagt hatte, erschien zunächst die Anlegung eines parkartig zu gestaltenden Friedhofes auf dem zum Rosenhof gehörigen, gut 1,3 ha umfassenden ehemaligen Weinbergsgrundstück, das durch Zukauf einer Nachbarparzelle noch bedeutend vergrößert werden sollte. Als Interimskirche war die entsprechend umzubauende bisherige Turnhalle der Niederlößnitzer Schule vorgesehen, was ein gewisses Konfliktpotential barg, aber vom Schulvorstand selbst vorgeschlagen worden war. Alles schien auf gutem Wege, bis die weltpolitischen Ereignisse von Ende Juli/ Anfang August 1914 die Pläne mit einem Schlag in Makulatur verwandelten.
Im und nach dem Weltkrieg hatte man in Niederlößnitz dann ganz andere Sorgen. Der Kirchbauverein bestand zwar weiter, sein aus Spendensammlungen stammendes, auf der Sparkasse deponiertes Vermögen (1914 waren es schon fast 10.000 Mark gewesen) löste sich durch die Inflation 1923 aber buchstäblich in Luft auf. Der im selben Jahr erfolgte Zusammenschluss der westlichen Lößnitzgemeinden nahm den Separatisten dann endgültig den Wind aus den Segeln. Obwohl der bisherige Niederlößnitzer Gemeindevorstand an die Spitze des neuen Gemeinwesens trat, wurden die Immobilien und Grundstücke, die die Gemeinde für den Kirchenbau und den Friedhof erworben bzw. geschenkt bekommen hatte, bald darauf und zum Teil gegen ausdrückliche Verfügungen anderen Nutzungen zugeführt. Der Rosenhof war schon 1920 nicht Pfarramt, sondern kommunale Kindertagesstätte geworden. (Heute wünschte man ihn sich, eine entsprechende Zweckbindung vorausgesetzt, wieder in kommunaler Hand…) Das Gelände des geplanten Friedhofs wurde 1925 durch die Sackgasse »Am Rosenhof« erschlossen und zu Bauland umgewidmet. Zur gleichen Zeit entstand auf dem ehemaligen Kirchenbauplatz die so genannte Gröba-Siedlung für Verwaltungsangestellte des gleichnamigen Elektrizitätsverbands, dessen Zentrale 1925 von Gröba bei Riesa nach Kötzschenbroda, Körnerweg 5, umgezogen war.
Im Rückspiegel betrachtet, wäre die Auspfarrung sicher ein Fehler gewesen, den die Geschichte über kurz oder lang ohnehin wieder korrigiert hätte, und die Kirche ist wahrscheinlich froh, nicht noch ein weiteres Gotteshaus erhalten zu müssen. Für den Stadtteil Niederlößnitz hätte der Bau aber vermutlich eine Identität stiftende Wirkung gehabt – um etwas aus der berühmten Kirchturmperspektive betrachten zu können, braucht man eben einen Kirchturm. Um das auch ästhetisch ambitionierte Friedhofsprojekt von 1914 ist es freilich schade, wie um jeden Quadratmeter Grün, der in Baugruben verschwindet. Die goldenen Jahre des »Sächsischen Nizza« waren mit dem Ersten Weltkrieg vorbei, der besondere Reiz der Lößnitz blieb davon aber lange unberührt und lässt sich heute trefflich in »Betongold« ummünzen. Die Kehrseite der Medaille ist, dass dieser viel besungene Reiz zu den endlichen Ressourcen gehört. Von den zehn traditionsreichen Gastwirtschaften, die das Adressbuch für 1914 in Niederlößnitz auflistete, sind nur noch zwei übrig. Durch den Umzug des Standesamtes wurde das Niederlößnitzer Rathaus nun endgültig zur leeren Hülle. Die Schließung der Geburtenstation des Krankenhauses und die kürzlich im Radebeuler Bauausschuss gefallene Entscheidung, die lange überfällige Instandsetzung der Parkanlagen am Rosa-Luxemburg-Platz, mit der nach dem Vorschlag der Stadtverwaltung eigentlich 2014 begonnen werden sollte, einmal mehr auf unbestimmte Zeit zu verschieben, tragen dazu bei, dass zum 175. Geburtstag der Gemeinde von vornherein erst gar keine Feierstimmung aufkommt. Der Gabentisch wird wohl leer bleiben.

Frank Andert

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