Der kirchenmusikalische Höhepunkt des Jahres 2015 in Radebeul

– Zur Aufführung der „Matthäuspassion“ am 3. April 2015 –

Radebeul kann sich seit Jahrzehnten an einer für eine Stadt dieser Größe überaus vielfältigen und beständig in die Öffentlichkeit hineinwirkenden Kirchenmusik erfreuen. Bestimmt haben viele von Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, im Laufe der Zeit das eine oder andere Mal die Lutherkirche oder Friedenskirche anlässlich eines Konzertes besucht, vielleicht vor wenigen Monaten erst zu einer Aufführung des Weihnachtsoratoriums. Es ist ein schöner Brauch, dass sich die Kantoreien in Radebeul-Ost und Radebeul-West dabei nicht gegenseitig Konkurrenz machen, sondern sich sinnvoll ergänzen. So erklangen die Kantaten 1-3 in der Kirche an der Meißner Straße, die Kantaten 4-6 in Kötzschenbroda.
Vielleicht sind Ihnen in den letzten Wochen auf Ihren Wegen durch Radebeul die Plakate aufgefallen, welche auf die am Karfreitag stattfindende Aufführung der Bachschen „Matthäuspassion“ hinweisen. Wer näher herantritt kann erfahren, dass dazu beide Kantoreien gemeinsam unter der Gesamtleitung von KMD (Kirchenmusikdirektor) Gottfried Trepte und noch verstärkt um den Chor der Johanneskapelle Radebeul-Naundorf (üblicherweise geleitet von Kantorin Angelika Werner) sowie der Kurrende der Lutherkantorei auftreten werden. Man ist auf den ersten Blick geneigt, diese Information einfach so zur Kenntnis zu nehmen. Möglicherweise aber ahnen auch Sie, dass sich dahinter ein Vorhaben verbirgt, das die insgesamt gut 140 (!) Sängerinnen und Sänger an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit führt und für Radebeul den kirchenmusikalischen Höhepunkt in diesem Jahr darstellt. Diese Tatsache hat mich dazu bewogen, mich bei den beiden Kantoren Gottfried Trepte (Lutherkantorei) und Karlheinz Kaiser (Kantorei der Friedenskirche) nach dem Zustandekommen des Projektes und dessen näheren Umständen zu erkundigen.

Die Wirkung auf die Zuhörer, die von der „Matthäuspassion“ von J.S. Bach ausgeht, beruht ganz wesentlich auf seiner Anlage als doppelchörig komponiertes Werk, d.h., dass Bach zwei jeweils vierstimmige Chöre vorgesehen hat, die auch von zwei getrennt agierenden Orchestern begleitet werden. Diese Vorgabe erklärt, warum sich weder die eine noch die andere Kantorei dieses Werk alleine zumuten kann: es würde schlicht an sängerischer Kraft in den einzelnen Stimmgruppen fehlen. Eine Zusammenarbeit allerdings erfordert ein großes Maß an Abstimmung zwischen den Beteiligten und führt(e) im konkreten Fall dazu, dass nicht nur beide Kantoreien und der Chor der Johanneskapelle seit Anfang Januar für sich prob(t)en, sondern es im Februar und März auch drei gemeinsame Sonderproben gab. Die Kantoren Trepte und Kaiser können sich allerdings auf eine große Zahl erfahrener Choristen stützen, die bereits 2005 dabei waren, als letztmalig beide Kantoreien sich vereint an Bachs opus magnum gewagt hatten. (Dass es darüber hinaus in jüngerer Vergangenheit zwei weitere Kooperationen in Sachen Matthäuspassion gab – die Lutherkantorei führte sie mit der Meißner Domkantorei auf, die Kantorei der Friedenskirche mit dem Chor der Himmelfahrtskirche Dresden-Leuben – sei der Vollständigkeit halber erwähnt.) Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass zu Bachs Zeiten die Matthäuspassion vermutlich weit weniger Mitwirkende band als heutzutage. Bach hatte die Passion 1727/29 als Thomaskantor in Leipzig geschrieben und konnte damals auf ca. 60 Knaben- bzw. Männerstimmen zurückgreifen. Man geht davon aus, dass auch die Zahl der Musiker 20 nicht überschritten hatte, während die aktuelle Produktion auf die Unterstützung von etwa 40 Musikerinnen und Musiker (Elblandphilharmonie Sachsen sowie eine Gambistin und einen Organisten) baut. Wie andere Werke Bachs auch geriet die Matthäuspassion nach dessen Tod 1750 in Vergessenheit und wurde – ebenso wie z.B. das Weihnachtsoratorium – erst von Felix Mendelssohn-Bartholdy wieder entdeckt. Dieser führte sie 1829 in Berlin zum ersten Mal wieder auf, allerdings in einer gekürzten Fassung, weil eine Gesamtaufführung (noch) als undurchführbar galt. Befördert durch die von Carl Friedrich Zelter begründete sog. „Singebewegung“ um 1810 mit der Gründung von zahlreichen weltlichen Chören („Singakademien“/ „Liedertafeln“) wurde die Matthäuspassion im Laufe des 19. Jahrhunderts zunehmend einem breiteren Publikum bekannt und gehört spätestens seit Mitte des 20. Jahrhunderts trotz ihrer außergewöhnlich langen Dauer von ca. zweieinhalb Stunden (in der Radebeuler Aufführung wird es allerdings eine kleine Pause geben) zum festen Bestandteil insbesondere der ost- und mitteldeutschen musica sacra.
Wenn Gottfried Trepte am Karfreitag kurz nach 15 Uhr den Taktstock hebt und den Einsatz für den monumentalen und doch tief berührenden Eingangschor „Kommt, Ihr Töchter, helft mir klagen“ in e-moll gibt, wird die Lutherkirche hoffentlich gut gefüllt sein. Bis zu 600 Besucher erwarten Trepte und Kaiser, nicht zuletzt, um die erheblichen Kosten des Projektes von ca. 7000€ wieder einspielen zu können. Denn abgesehen von der Elblandphilharmonie Sachsen, die als das traditionell mit dem Kulturraum Meißen – Sächsische Schweiz – Osterzgebirge verwachsene Orchester durch ihre Mitwirkung auch ihrem satzungsgemäßen Auftrag gerecht wird und deshalb relativ preiswert „zu haben“ ist, müssen immerhin auch noch sechs Solistinnen und Solisten bezahlt und die Nebenkosten gedeckt werden. Eine weitere Aufführung ist nicht vorgesehen, denn als originäre Passionsmusik ist der Matthäuspassion nur ein kurzer Zeitraum beschieden, zu dem sie aufgeführt werden kann. Auch wenn Sie, liebe Leserinnen und Leser, vielleicht eine CD oder Schallplatte mit einer Aufnahme zu Hause haben: Wie wäre es, wenn Sie die seltene Chance nutzten, sich dieses großartige Werk live durch Radebeuler Chöre darbieten zu lassen? Dieses ambitionierte Projekt hat eine gut besuchte Aufführung verdient, nicht zuletzt darum, damit die Verantwortlichen eine Bestätigung dafür erfahren, dass sich gemeindeübergreifende Zusammenarbeit im besten Sinne des Wortes für alle lohnt.

Bertram Kazmirowski

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