Du musst Träumen ihre Entstehung zulassen, denn nur so kann irgendwann ein Teil davon auch Wirklichkeit werden.
Zwei wundersame Geschichten im Orient
Wieder ging’s los mit dem kleinen, hellblauen Flugzeug. Thomas, der Pilot, flog Tom gleich zu Beginn der Matscheschneekältewetter-Winterferien in kurzer Zeit in eine palmenwedelnd-frühlingsduftende Gegend, wo der Honig besonders lecker schmeckt und Orangen einfach so als Fallobst, kaum beachtet, unter Straßenbäumen liegen. Hier gibt es statt Glockengeläut von Kirchtürmen schwelgende Gesänge von Moscheeminaretten und zum Frühstück frisch gepressten Granatapfelsaft. Alle Pflanzen duften mitten im Februar schon viel stärker als zu Hause im wohligsten Sommer, das Meer rauscht leise. Nur die fernen Berge tragen auf ihren höchsten, sehr geschwungenen Gipfeln Kappen aus Schnee. Hier oder vielleicht doch noch woanders, aber schon fast in der Nähe müssen die „Märchen aus tausendundeiner Nacht“ gespielt haben. Tom ist sich fast sicher, denn als ihm seine Großmutter Selma früher daraus vorlas, hatte er genau solche Bilder in sich drin entstehen sehen, wie er sie jetzt hier, nur etwas gegenwärtiger eben, vor sich sieht.
Wundersame Teppiche, die nie fliegen werden
Obwohl es schon Mittagszeit ist, spürt Tom keinen großen Hunger, nur etwas Müdigkeit vom Erlebten in der orientalischen Altstadt. Ein bisschen Ausruhen ist dran, Tom holt sich einen frisch gepressten Orangensaft, nimmt den Rucksack ab und lässt sich mit kurzem Seufzer auf einem Mauersims nieder. So, jetzt noch die Beine ausstrecken und…mmmhhh, wie der Orangensaft duftet und schmeckt! Erst nach dem nächsten Schluck blickt Tom auf und schaut auf zwei Läden, nicht weit gegenüber. In beiden gibt es Teppiche unterschiedlicher Größe und Muster, die auch dort hergestellt werden, um sie an Touristen aus aller Welt zu verkaufen. Kennst du die Märchen, in denen fliegende Teppiche vorkommen?
Tom erinnert sich der gehörten, vor- und längst selber gelesenen und jetzt schaut er hier in Ruhe zu, wie Teppiche gewebt werden. Das geht bei dem einen Händler, halb links quer der Straße, recht flott. Der hat dafür eine computergesteuerte Webmaschine, und ist solch ein Teppich ratzebatze fertig, so zieht ihn der Händler (Tom kann es deutlich durch eine spaltbreit offene Tür beobachten) durch eine Wanne mit einer gelbgrüngrau schäumenden, bis draußen übel riechenden Flüssigkeit und dutzenden, sehr kantigen Steinen. Die Touristen bezahlen schließlich viel Geld für „alte“, also „historische“ Teppiche, und nach solch einer Prozedur ist jeder Teppich in wenigen Minuten um viele hundert Jahre gealtert, scheinbar. Freilich ist nicht mal die Zeit bis zum nächsten Schluck Orangensaft vergangen…
Der Händler längs der Straße jedoch bietet nur wenige fertige Teppiche an. Seine Frau und die beiden Töchter sitzen an großen Webrahmen bei der Arbeit. Dabei erzählen sie einander Geschichten und trinken Tee, beginnen zu singen, legen bald eine Pause ein, weben weiter, haben einen freundlichen Blick für Tom übrig, um dann wieder miteinander zu scherzen. Tom entdeckt, dass jeder der wenigen Teppiche, die auf Käufer warten, ganz anders aussieht, so, als ob er selber eine eigene und ganz unverwechselbare Geschichte erzählen könnte. Na ja, für denjenigen jedenfalls, der aus einem Teppich Geschichten lesen kann. Nein, Tom braucht keinen Teppich. Und ein fliegender Teppich wird jetzt auch nicht durch die Tom-Tagtraum-Geschichten schweben. In denen gibt es schon genug wundersame Transportmittel, lassen wir die Flugteppiche also in den Märchen, in denen sie zu Hause sind. Darum soll es hier nicht gehen, hat doch Tom für sich ganz allein etwas klären können. Als er vom Mauersims aufsteht und den letzten Schluck frisch gepressten Orangensaft austrinkt, ist ihm das Geheimnis aller fliegenden Teppiche plötzlich ganz klar geworden. Wie – Was – Warum – Wieso… fragst du jetzt? Nun, noch bevor Tom den ersten Schritt weiter gelaufen ist, weiß er genau, welche Teppiche auch in den fantastischsten Märchen n i e fliegen werden können.
Mehmet der Zuckerbäcker und der wundersame Geldautomat
Nein, so etwas aber auch. Immer noch ist Tom in diesem fernen Land und Mehmet, der Zuckerbäcker, hatte ihn eben von diesen köstlichen Törtchen und Küchelchen kosten lassen. Genau das ist es! Einen großen Karton voll von diesen Leckereien mit nach Hause nehmen, für Mutter Bruni, Vater Gerd, Oma Selma, vielleicht würde sich Herr May auch freuen oder die Kinderärztin Frau Doktor Haferkorn. Aber zu dumm. Es ist der letzte Urlaubstag und, nun ja, wer kennt das nicht, Toms Taschengeld für diese Reise ist restlos alle. Am Anfang hatte er seine Euro in diese fremde Währung, nennen wir sie mal einfach Korinthen, getauscht, aber jetzt ist bis auf eine kleine, abgegriffene Münze nichts mehr übrig. Und billig sind die handgemachten Küchelchen auch nicht. Die und guter Rat sind jetzt also beide teuer. Tom kann nicht mal mehr Thomas, den Piloten, fragen, ob der ihm was leihen könnte, denn der tankt schon am Flugplatz vor der Stadt das kleine, hellblaue Flugzeug auf. In einer Stunde kommt der mintgrüne Reisebus, um Tom zur Rollbahn zu bringen. Nun geschieht auch in vermeintlich märchenhaften Wunderländern nicht ständig in aller Gegenwartsalltag ein Wunder und Tom ist auch noch zu jung für eine eigene Kreditkarte, mit der an allen Geldautomaten auf der Welt hätte etwas abheben können. Sein Sparschwein, das steht zu Hause auf dem Klavier. Der Gedanke, dass es ganz gut gefüllt ist, hilft hier jedoch auch nicht weiter… Aber je intensiver Tom an sein Sparschwein zu Hause auf dem Klavier dachte, desto schummeriger erschien ihm nach und nach ringsum die Welt und er selbst fühlte sich ein bisschen benebelt. Wer Tom jetzt beobachtete, erschrak vielleicht, sah er ihn doch zu einem Geldautomaten taumeln, sah, wie Tom einige Tasten drückte und dabei einige Male merkwürdige Laute vor sich her murmelte. Es klang aus weiter Ferne etwa wie „Himbraautomata, Sparschwein komm nach dada, himbrabrumbra letztlich, schütt mein Geld hier aus jetzt plötzlich…“ Tom taumelte immer noch und sah Farben aus Rosa und Grün, als vom Geldautomaten ein langes Klimpern zu vernehmen war. Toms gesamtes Sparschweingeld kam nämlich eben dort an, zweckmäßiger Weise gleich in der Landeswährung Korinthen gewechselt. Ein Wachmann der Bank schaute noch mit finsterem Blick um die Ecke, aber Münzen aus Geldautomaten, das gab es nicht, das war nicht vorgesehen. Also hatte ihm seine Wahrnehmung in der Mittagssonne nur einen Streich gespielt. Es würde Zeit, in Ruhe einen Tee zu trinken… Tom fühlt die Münzen in seiner Jackentasche und läuft eilig zu Mehmet, den Zuckerbäcker. Der hat bereits Toms Bestellung an Törtchen und Honigküchelchen transportsicher in einen großen Karton verpackt. Mehmet weiß Bescheid, jeden Tag kommen Touristen kurz vor der Abreise bei ihm vorbei. „Tschüss Tom, gute Reise nach Hause, lass es dir und deinen Freunden dort schmecken und wenn du mal wieder hier bist…“ – Aber da ist es längst Zeit für Tom. Er bekommt von Mehmet noch eine kleine Köstlichkeit auf die Hand, als der mintgrüne Reisebus schon hupt. Ab zum kleinen, hellblauen Flugzeug, das pünktlich startet. Tanja, die Stewardess, bringt Tom Apfeltee und Baklavar. Ab nach Hause. Übermorgen sind die Matscheschneekältewetter-Winterferien schon zu Ende, die Schule fängt wieder an.
Tobias Märksch