Nicht nur Ost-West-Spagat in Radebeul

Am 11. Mai fanden in Radebeul gleich zwei gewichtige Veranstaltungen statt: der Tag der Städtebauförderung im Sanierungsgebiet Ost und ein Stadtteilfest unter dem Motto „Radebeul tanzt“ im Sanierungsgebiet West. Also wohin zuerst? Die Entscheidung fiel zugunsten von Radebeul-Ost aus, denn dort wurde im historischen Rathaus Punkt 10 Uhr durch den Oberbürgermeister die neue Galerie im Treppenhaus eingeweiht. Den Auftakt bildete eine Präsentation mit Fotografien, Texten und Dokumenten zu den Gemeinde- und Rathäusern aller Radebeuler Ursprungsgemeinden im Wandel der Zeit. Besonders hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang, dass die Ausstellung durch Mitarbeiter der Stadtverwaltung, vorrangig des Hauptamtes, konzipiert und gestaltet wurde. Im Anschluss an die Ausstellungseröffnung startete eine Gruppe interessierter Bürger in Begleitung von Architekten und Mitarbeitern der jeweiligen Fachämter zu einem Rundgang durch die jüngst sanierten öffentlichen Gebäude wie Rathaus, Standesamt, Kulturbahnhof und Touristinformation.

Sachsens erste Palmenallee
Foto: K. (Gerhardt) Baum


In West tanzten derweil die Radebeuler mit der Einkaufstasche durch Sachsens erste Palmenallee. Dazwischen hingen Wahlplakate aller Couleur. Eine schwarze Wand stand quer auf der Bahnhofstraße und versperrte den von der Meißner-Straße Kommenden die Sicht auf das eigentliche Zentrum des Stadtteilfestes. Die ominöse Wand entpuppte sich als Teil einer Bühne, welche die Besucher mit ihre Rückseite empfing. Auf und vor der Bühne lief ein nicht zu überhörendes ganztägiges “Gute-Laune-Programm“. Models präsentierten freche Sommermode. Hip-Hopper, Rockn-Roller und Street-Dancer traten in raschem Wechsel auf. Die großen und kleinen Zuschauer tanzten emsig mit. Die Organisatoren hatten keine Mühe gescheut. Sogar 250 Stiefmütterchen wurden gepflanzt, 10 Palmen extra angeschafft und aufgestellt, 300 Luftballons aufgeblasen und unzählige Wimpelketten gespannt. Fürs leibliche Wohl war in reichem Maße mit Limonade, Kuchen, Eis, Bratwurst, Steak, Bier und Wein gesorgt. Wer da war, ließ sich den Spaß trotz des Regens nicht verderben. Der Grundtenor: „Ist doch gut, wenn was los ist. Was das ist, ist doch egal. Hauptsache es ist überhaupt was los. Die anderen meckern doch nur, weil sie immer meckern.“

Der Regen strömte und die Radebeuler strömten auch. Das Interessante daran ist allerdings, wo strömten sie hin? Welche Läden an diesem Tag bis wann geöffnet hatten, glich einem Buch mit sieben Siegeln. Wer sich im Bettenhaus vom Dschungelfieber anstecken ließ, in Büchern oder Reiseprospekten blätterte, wer Dank praktischer Tipps schlank und schön in den Sommer starten wird und ob das Stadtteilfest den Erwartungen der mitwirkenden Händler entsprochen hat – all das werden wir hoffentlich noch erfahren. Die Wahrnehmungen von Bürgern, Händlern oder Tagespresse sind sehr unterschiedlich. Und das ist auch total in Ordnung.

Die »Gute-Laune-Bühne« in Radebeul-West
Foto: K. (Gerhardt) Baum


Das Wetter jedenfalls erforderte Improvisation. In der ehemaligen Rossmann-Filiale ruckelte sich mit dem guten Willen aller Beteiligten vom Kuchenbasar, Flohmarkt, Kinderzirkus, Bastelstrecke und Limo-Bar bis zur Bürgerdiskussionsrunde irgendwie alles zusammen. Hauptsache ein wasserdichtes Dach überm Kopf!

Doch ein wenig paradox wirkte es schon – im Bürgertreff (zur Zeit ein Pop-Up-Store) waren Weinkartons gestapelt und in der ehemaligen Rossmann-Filiale die Bürger. Pardon, natürlich nicht gestapelt! Zusätzliche Bänke und Stühle wurden eilig herbeigeschafft. Jeder fand einen Platz. Die Informationsveranstaltung war mehr als gut besucht. Die angekündigten Zukunftsvisionen für Radebeul-West wollten sich die Radebeuler nicht entgehen lassen. Das Leitbild, an dem zahlreiche Händler mitgewirkt hatten, wurde durch die Stadtverwaltung erläutert und von den Anwesenden zur Kenntnis genommen. Sehr aufschlussreich waren die Ergebnisse einer Verkehrsuntersuchung. Die neue Leiterin der Radebeuler Stadtbibliothek stellte erste Überlegungen für eine künftige Bibliothekskonzeption vor, in der vor allem auch der soziokulturelle Aspekt stärkere Beachtung finden soll. Eine Bibliothek könnte demnach ein so genannter „dritter Ort“ sein. Als dritte Orte bezeichnet man neben der Wohnung und Arbeitsstätte frei zugängige Räume, die zur Kommunikation und Kreativität anregen, wo Begegnungen stattfinden können ohne Verpflichtung und Zwang. Das alles war sehr viel wohlklingende Zukunftsmusik in der Möglichkeitsform.

An ein Mikrofon hatte allerdings keiner gedacht. Und so war es für die Zuhörer in den letzten Reihen recht schwierig den Vorträgen zu folgen. Wie gesagt, im Bürgertreff hatte das schon mal besser funktioniert. Trotzdem wurde nach jedem Vortrag brav geklatscht. Revolution war gestern.

Der »Feedbackbriefkasten« mit Leitbildbroschüre vorm Bürgertreff in West


Die Bürger sind geduldig – das Bahnhofsgebäude ist es nicht. Der Verfall schreitet voran. Immerhin hat sich der Eigentümer Gedanken über die künftige Nutzung gemacht und stellt sich „eine Symbiose aus Kultur und Handel“ vor. Was lange währt wird wohl besonders gut. Sinn gäbe es schon, wenn die Bibliothek recht bald dort einzöge, damit das ehemalige Bahnhofsgebäude endlich seine „Strahlkraft für das ganze Stadtquartier“ entfalten kann. Spätestens hier sei nachdrücklich klargestellt, dass eine Kultureinrichtung vorrangig der Bildung und Erbauung dient. Für die Höhe ihrer Umsätze sind die Händler selbst zuständig. Beides sollte man nicht vermengen, voneinander abhängig machen oder gar gegeneinander ausspielen. Wenn sich durch ein gutes nachbarschaftliches Miteinander zusätzliche Synergieeffekte ergeben, ist das natürlich sehr erfreulich.

Es muss nicht immer Google sein, wenn man etwas lernen will. Auch aus das Radebeuler Stadtlexikon bietet hierfür reichlich Stoff. So hatte man bereits vor 110(!) Jahren in Bezug auf die Förderung der Wirtschaft sehr ambitionierte und komplexe Vorstellungen. Im Jahr 1909 präsentierten sich zur Ausstellung der Lößnitzortschaften auf der Kötzschenbrodaer Festwiese Handwerk, Gewerbe, Gartenbau und Industrie gemeinsam. Als Ausstellungshalle wurde auch der Vorgängerbau der heutigen Elbsporthalle – die damalige Schützenhalle – mit einbezogen. In eben dieser Halle und dem vorgelagerten Außenbereich fanden in den 1990er Jahren, wenngleich nicht in einem so gigantischem Ausmaß, wieder gesamtstädtische Gewerbemessen statt. Heute agieren die Radebeuler Händler in Ost und West, jeweils für sich.

In Ost gibt es zur Zeit durch die Initiative einzelner engagierter Händler den Weinfrühling im Kulturbahnhof und das (Paul-Große-)Passagen-Fest, in welches auch Bereiche der Hauptstraße eingebunden sind. Da sich der Gewerbeverein von Radebeul-Ost 2014 aufgelöst hat, fehlt es an stabilen organisatorischen Strukturen, was den kleinen Trupp von Aktiven mitunter an seine Belastungsgrenze bringt.

In West organisierten die Händler – ebenfalls aus eigener Kraft – im Jahr 2012 ihr erstes Herbstspektakel. Nach zwei Jahren ging ihnen allerdings die Puste aus. Mit Unterstützung des Kulturamtes gab es dann noch einmal für zwei Jahre eine Fortsetzung. Schließlich wurde im Zusammenhang mit dem Sanierungsgebiet ein Stadtteilmanager eingestellt. Dessen Intermezzo währte nur kurze Zeit. Ihm folgte eine sehr agile Quartiermanagerin, die am 1. Juni 2017 mit dem ersten Stadtteilfest und einem grundlegend neuen konzeptionellen Ansatz zur Belebung des Stadtteilzentrums gestartet ist.

Dass es jetzt für Händler, Bürger und alle Vor-Ort-Akteure in Radebeul-West eine Ansprechpartnerin gibt, ist sehr wichtig, denn alle wünschen sich nichts sehnlicher als eine offene und zielgerichtete Beteiligungskultur. Wann und wo die Quartiermanagerin Nadine Wollrad zu sprechen ist, steht wohl noch nicht fest. Der Kontakt per Mail ist allerdings auch jetzt schon unter bahnhofstrasseacht@gmail.com möglich. Wem die Entwicklung und Belebung des innerstädtischen Zentrums von Radebeul-West am Herzen liegt, der sollte sich als „mündiger Bürger“ unbedingt informieren und aktiv einbringen, denn die Weichen werden jetzt gestellt. Ausführliche Informationen zum aktuellen Stand der Dinge im Sanierungsgebiet enthält die vierte Ausgabe der „West-Post“, welche bei den Händlern kostenlos erhältlich ist. Eine Leitbildbroschüre hängt zur Einsicht am „Feedbackbriefkasten“ vorm Bürgertreff.

Wie schön, dass Radebeul zehn Ursprungsgemeinden hat, wo es immer wieder Gründe zum Feiern gibt. So luden Anwohner, Gastronomen und Gewerbetreibende am 19. Mai unter dem Motto „Bunt feiern ohne Blau zu machen“ zur Angerfete für Weltoffenheit und gegen Rassismus nach Altkötzschenbroda ein. Wer das verpasst hat, kann zum Kindertagsfest am 1. Juni auf dem Anger mit den Indianern weiterfeiern. Gründe zum Feiern gibt es auch in diesem Jahr für die Bewohner von Naundorf und Niederlößnitz. All die Initiativen, welche im kleineren Kreise und mitunter recht spontan stattfinden aufzuzählen ist in diesem Beitrag gar nicht möglich. Aber genau das ist es, was die Lößnitzstadt auch zwischen den großen Stadtfesten so lebendig und sympathisch macht.

Karin (Gerhardt) Baum

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