Sehnsucht nach Ordnung und Chaos

Anna Mateur im Interview mit Sascha Graedtke

Vom 14.-16. Juni findet in Radebeul das nunmehr 4. X-Jazz Festival statt. Ein reiches Programm an unterschiedlichen Örtlichkeiten lädt zum Hören und Verweilen ein. Unter den Künstlern ist diesmal erstmalig Anna Mateur dabei.

Foto: David Campesino

In diesem Jahr führt dich im Rahmen des X-Jazz Festivals der Weg auf die Bretter der Landesbühnen Sachsen. Was verbindest Du mit Radebeul?

Radebeul ist für mich vor allem das Weinfest, dann der wunderschöne Dorfanger, die Weinberge wenn man mit dem Zug vorbeifährt und nach der Himmelsleiter späht…

In den Landesbühnen hatte ich meine erste Hauptrolle als schizophrener Bürgermeister im „Drachen“ von Jewgeni Schwarz. Ich trat auf, hatte meinen ersten Satz und der Saal applaudierte. Das hat mich so verwirrt, dass ich dann auch gleich mein erstes Blackout vor großem Publikum hatte. Aber im Nachhinein meinten die Mitspieler, dass es nicht so lang gewesen sein muss. Man selber empfindet dann Stunden, wenn es zum Glück nur Sekunden sind.

Das Allerschönste an Radebeul-Serkowitz ist für mich das Lügenmuseum! Solche Schreine, Wunderkammern muss man beschützen, denn es ist etwas sehr Seltenes!!!

Günter Baby Sommer ist die gestaltende Kraft des Festival. Was verbindet Dich mit ihm?

Günther Baby Sommer saß damals in meiner Aufnahmeprüfung an der Hochschule für Musik in Dresden. Es war meine erste und einzige Aufnahmeprüfung. Ich hatte sehr viel Prüfungsangst und meine Mutter meinte „Geh hin, dann weißt du wie es ist!“

Ich hatte einen Monolog der Irrenärztin Dr. Mathilde von Zahnd aus die Physiker von Dürrenmatt vorbereitet. Baby Sommer musste als Möbius, den ich anspielte und dem ich mich offenbarte herhalten. Ich brüllte rum und riss die Augen auf. Vermutlich war ich eine der Wenigen die Monologe vorbereitet hatte, denn wie ich später erfuhr, trugen die Meisten ein Gedicht vor.

Wie lange begleiten dich deine Musikerkollegen Samuel Halscheidt und Kim Efert schon und wo hast du sie kennen gelernt?

Samuel habe ich damals als Mitstudenten in der Hochschule kennengelernt. Er ging dann nach Berlin und tauchte wieder auf als ich neue Gitarristen suchte, weil meine damaligen Bandkollegen ihre eigenen Projekte angingen in Indien und Linz.

Da tauchte Samuel dann auf. War das 2008? oder 2010? Ich hab es nicht so mit Zahlen.

Kim kannte ich gar nicht aber Stephan Braun, unser Jazzcellist meinte, wir sollten ihn mal einladen. Für Kim war das auch merkwürdig als wir ihn baten sich zu Libertango auf den Boden zu legen.
Beide sind immer noch am Start. Aber wir werden älter und kinderreicher.

Du entstammst einem sehr musikalischen Elternhaus. Wann war Dir klar, dass Du auch einen künstlerischen Weg einschlagen willst?

Als ich in der 7. Klasse an die Spezialschule für Musik wechselte. Wenigstens für 3 Jahre, denn eine gute Querflötistin wäre nimmer aus mir geworden.

Im Oktober 2019 jähren sich zum nunmehr 30. Mal die Feierlichkeiten zur sogenannten „Wende“. Du bist Jahrgang 1977. Welche Rolle spielt die DDR noch in Deinen Erinnerungen?

Meine Kindheit verbrachte ich in der DDR. Ich wurde in Dresden geboren bin in Dresden-Süd aufgewachsen. Mit 16 zog ich mit meinen Eltern und drei Geschwistern nach Bannewitz. Vor dem Haus war nur Feld und hinterm Haus war eine Wiese und ein Waldrand. Das war erstmal eine Umstellung, zumal man mit 16 eher auf andere 16jährige scharf ist…, das war zunächst hart,aber dann genoss ich es auch auf Dresden im Morgennebel zu schauen. Allerdings hätte ich auf den bergigen Schulweg mit dem Rad verzichten können.

Die DDR-Kindheit war schön und beschaulich. Man bekommt als Kind nicht das große Ganze mit, sondern sein Umfeld. Die Wende kam, da war ich 11/12/13. Meine Eltern und meine Großmutter waren nicht in der Partei und mein Großvater war Pfarrer gewesen. Wir lebten alle in einem Haus am Stadtrand, welches meine Ururgroßeltern gebaut hatten, eine alte Eisenbahnerdynastie.

In unserem Garten stand ein Eisenbahnwagon 4!!!!Klasse. Den hatte Tante Jenny damals an ihr Auto angehängt und vom Dresdner Hauptbahnhof nach Dresden Altpestiz gezogen. Die ganzen Neubauten und dergleichen gab es damals noch nicht.

Den Wagon hat mittlerweile ein Eisenbahnverein abgeholt. Er diente uns damals zum Versteckspiel und für die Gartengeräte.

Wir hatten kein Westfernsehen, also genoss ich eine Kindheit mit Flimmerstunde, Clown Hoppla, Spielhaus…

Die Lehrer waren freundlich und streng. Und doch gab es das „Ab in die Ecke und schäme dich“ oder „Wir alle als Kollektiv wollen nicht, dass du…….“ usw. Aber ob das jetzt nur im Osten so war und ob das nicht zu Zeiten meiner Großmutter noch schlimmer war kann ich nicht sagen.

Wir bekamen 1988 ein Telefon von fünf Leuten installiert, als nur mein kleiner Bruder zu Hause war. Meine Eltern waren oft auf Veranstaltungen und Demos und machten sich auch manchmal Sorgen dass man uns als Druckmittel einkassieren könne. Meine Mutter meinte dann oft zu uns:“ Wenn jemand sagt, komm mit ich kenne deine Eltern, dann geht nicht mit!“ oder „Wenn wir mal nicht nach Hause kommen dann ist ja die Grossmama da, die passt auf euch auf.“ Ich habe diese Sätze damals nie begriffen.

Da ich sie heute verstehe bin ich sehr wütend, dass Menschen sich um so etwas überhaupt sorgen müssen.

Und es sind ja auch genug Dinge passiert. Wir hatten Glück. Mein Vater leitete einen Chor. Die trafen sich bei uns zu Hause und auch unser Spitzel sang da mit. Der andere Spitzel kam jeden Tag zum Mittagessen. Er war Heimkind und naja, ich denke die DDR hat Heimkinder wunderbar indoktrinieren und benutzen können.

Die Wende und die Debatten und Demos waren für mich unglaublich spannend und haben mich sehr geprägt. Wenn man aufwächst und es heißt immer:“Ach, die Nazis und was haben sie alles mit den Juden und Andersdenkenden gemacht.“ und “Wir lassen nicht zu, dass so etwas wieder passiert.“ und dann sieht man irgendwann Dokus, dass sich Honecker und Konsorten in Wandlitz auch das Reh vor die Flinte jagen ließen. Holzauge sei wachsam aber werde nicht paranoid. Mein Geschichtslehrer Herr Rothe an der Spezialschule für Musik meinte, „Geschichte wiederholt sich gern, das geht immer in Wellen, schaut euch um und vergleicht!“

Als gebürtige Dresdnerin bist du eng mit Deiner Heimatstadt verbunden. Wie empfindest du die Entwicklungen der jüngsten Jahre?

Es gibt ja DIE Wahrheit nicht und ich habe sie nicht gepachtet. Ich kann tatsächlich nur Empfindungen schildern und mir wünschen, dass wir uns überraschen mit unserer Schwarmintelligenz, die ich unserer Schwarmdummheit gegenüberstelle.

Genauso überfordert wir von den vielen Informationen sind, die auszusortieren wir noch nicht gut gelernt haben, genauso sehe ich auch eine Chance darin, dass sich viele Menschen austauschen.
Es ist traurig wenn ich sehe, dass da 15.000 Leute „Wir sind das Volk“ brüllen und mir überlege, dass damals auf dem Theaterplatz ein Schrei nach Vereinigung war und nicht nach Trennung. Die Leute hatten Scherpen um auf denen stand: KEINE GEWALT!

Die Ostdeutschen wollten auch ein besseres Leben als sie in den Westen flohen. Was also empfinde ich, wenn ich sehe wie Menschen auf die Straße gehen und Dinge sagen wie: Ab nach Auschwitz oder Feiern wenn Menschen ertrinken. Aber das sind eben nicht ALLE Dresdner. Das sind Wenige und auch viele von Außerhalb die sich da zusammenfinden um zu Motzen. Warum findet man sich nicht zusammen um etwas Schönes zu unternehmen? Gemeinsam picknicken oder Zaun streichen, gemeinsam aufs Amt gehen und Muffins mitnehmen, für die lange Wartezeit. – Spinnstuben mussten was Tolles gewesen sein. Das Wertschätzen und das gemeinsame Miteinander sind Dinge die wir wiederentdecken sollten.

Meine Maxime lautet: „Ältestes bewahrt mit Treue, freundlich aufgefasstes Neue.“ (Goethe)

Ich war an einem musisch humanistischen Gymnasium. Mittlerweile weiß ich vor allem das Musische und das Humanistische sehr zu schätzen. Das sind für mich die Dinge unser Miteinander zu regeln und unsere Werte zu definieren im Umgang miteinander. Ich sehe viele Bemühungen in Dresden sich wieder mehr zur Mitte zu zu orientieren.

Du sprachst vom Widerstreit von Chaos und Ordnung im Leben und in der Musik. Was meinst du damit konkret?

Diese Frage sprengt den Rahmen des Interviews. Ich kann es nur anreißen und darauf verweisen, dass ich ein Büro für Ordnung und Chaos hatte, das war als Show einmal im Monat in der Scheune zu erleben. Es wird dieses Büro wieder geben. Momentan ist es in meinem Schrank hinter mir und neben mir und in meinem Kopf.

Ich denke es gibt große Kräfte: Ordnung und Chaos. Das ist natürlich von der Seite einer Ordentlichen aus beobachtet, ein Chaot würde sich sträuben sich in so ein Muster einzutüten.

Keines von beiden Konzepten ist besser oder schlechter als das Andere. Es ist wie Yin und Yang.

Kein Gut, kein Böse.

Wörter der Ordnung: Struktur, Muster, Reihenfolge, Rituale, Tradition, Geborgenheit, Pathos, Regeln, Gesetze, Hierarchie, Etabliertheit, Vorsorge, Befehl, Nachvollziehbarkeit,Sicherheit…

Bei Chaos denken die Meisten an Tohuwabohu Durcheinander und Krieg. Es ist aber weit mehr als das, denn Chaos ist auch im Kleinen vorhanden.

Zwischenruf: Chaos und Ordnung kann man natürlich nicht wirklich trennen! Es gibt immer den Anteil der Ordnung im Chaos und den Anteil von Chaos in der Ordnung.

Darum zählen für mich zum Chaos: Liebe, Humor und Fantasie, Intuition, Revolution, vom Wege abkommen, das Neue, das Flüchtige, das nicht Fassbare, das Unvollendete, auch Fehler und Unnachvollziehbarkeit, Bewegung, Abenteuer, Gefahr, Veränderung…

Ich behaupte: Jeder Mensch hat zu jeder Zeit Sehnsucht nach Ordnung oder nach Chaos. Und jetzt höre ich auf, denn es ist mein Lieblingsthema. Dazu werde ich noch viel singen, schreiben, zeichnen, denn es ist unerschöpflich und es macht Riesenspaß darüber zu philosophieren…

Und in der Kunst? Was war dein chaotischstes Bühnenerlebnis?

Verdrängt. Ach, ich habe mir mal den Fuß gebrochen, während der Frau Luna Vorstellung im Tipi. 3-fach Bruch. Ich habe weitergespielt und noch 5! große Choreografien bis zu Ende getanzt. Vor der Zugabe bin ich hinter der Bühne zusammengebrochen. Ich konnte einfach nicht mehr „auftreten“. Am nächsten Tag war zum Glück sowieso ein OFFday den ich in der Charité verbrachte, und am übernächsten Tag spielte ich ab da eineinhalb Monate im Rollstuhl weiter. Das kam aber gut an bei den Rollifahrern, weil sie sich durch mich auch auf der Bühne vertreten sahen.

Dein Programm in Radebeul wird zum letzten Mal gespielt. Welche Pläne hast für die kommende Zeit und wo kann man Dich wiedersehen?

Ich werde in Weissenburg in Bayern unter Georg Schmiedleitner ein Stück von Franzobel spielen. Es heißt „Der Lebkuchenmann“ und ist ein Sommernachtsalbtraum. Darin geht es um die Geschichte des kleinen Städtchens. Ich bin eine sehr sehr böse Erlkönigin und mein Gegenspieler ist Andreas Leopolt Schadt, bekannt aus dem fränkischen Tatort.

Dann werde ich in Berlin im Herbst 2019 mit Katharina Talbach, Meret Becker, Andreja Schneider und Anna Fischer in der Bar jeder Vernunft die „Glorreichen 5“ geben.

Ein neues Programm mit den Gitarristen kommt im Februar 2020. Das heißt, wie kann es anders sein „Kaoshüter“, denn alle Künstler sind Kaoshüter. So wie Polizisten und Bibliothekare sich um Einhaltung der Regeln bemühen, sind wir verantwortlich zu inspirieren zum Lachen, Nachdenken und zum Weinen zu bringen. Wir schubsen die Leute emotional, bringen sie auf, bringen sie vom Wege ab und das ist unsere Aufgabe als Kaoshüter. BurnOutschützer, Kuppler, Aufwiegler…

Herrlicher Beruf!

Liebe Anna, ich wünsche Dir viel Freude beim Jazzfestival in Radebeul und danke Dir für unser ausführliches Gespräch.

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Nächster Termin in Dresden: FILMNÄCHTE AM ELBUFER, 26.7.2019
„Dreckiges Tanzen“ gemeinsam mit „Zärtlichkeiten mit Freunden“ und Obertonsänger Jan Heinke. Auch mit dabei Samuel und Kim und Ausschnitte aus dem aktuellen Programm.

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