Fast eine Glosse

Wie jedes Jahr…

… oder auch nicht?

Zugegeben, diesmal war alles etwas anders, wie sonst üblich. Das hat den Deutschen regelrecht aus der Bahn geworfen. Nein, nicht aus dem „Lößnitzdackel“, viel schlimmer: Er musste seine Gewohnheiten umstellen! Eigentlich geht das gar nicht! Es ist ihm auch ungeheuer schwer gefallen. Rückfälle waren da unvermeidlich. So umarmte mich neulich eine Frau gleich zweimal, nur weil wir uns nach zwanzig Jahren unverhofft wiedergesehen hatten. Zu allem Unglück hatte sie ihren Impfausweis nicht dabei, und nun sitze ich unverschuldet in Quarantäne. So gern ich mich umarmen lasse, aber heutzutage grenzt das ja schon an Körperverletzung. Eine Anzeige habe ich aber nicht erstattet. Denn, was kann die arme Frau schon für ihre Reflexe? … Und wer weiß, wann mich das nächste Mal eine umarmt?! Bei der gegenwärtigen Lage kann ja alles das letzte Mal gewesen sein. Ob mein Friseur oder meine Stammkneipe je wieder aufmachen, weiß der Teufel. Oh…, mit dem will ich mich lieber nicht anlegen.

Die Ostdeutschen sollen ja erfinderisch sein, sagt man. Daran hat sich offensichtlich selbst 2020 nichts geändert. Auch wenn offiziell keine Feuerwerksraketen verkauft wurden, waren seltsamerweise nicht nur zu Silvester ausreichend Knallkörper vorhanden. Wenigstens in dieser Zeit ist Nachbars Hund das Bellen vergangen.

Ungewohnt war diesmal auch, dass die Radebeuler Bürger schon vorfristig in den Genuss einer Art Neujahrsrede ihres obersten „Dienstherrn“ gekommen sind. Auf diese unverhoffte Freude waren sie natürlich überhaupt nicht vorbereitet. Dies führte begreiflicherweise zu einer gewissen Ratlosigkeit.

Ich merk schon… jetzt bin ich dem Nicht-Radebeuler Lesern eine Erklärung schuldig.

Also, Neujahrsreden haben sich seit Jahrzehnten eingebürgert. Das wurde bisher auch so in Radebeul praktiziert. Zu Beginn eines jeden Jahres hatte der Oberbürgermeister in den Landesbühnen Sachsen an die großen Taten des vergangenen Jahres erinnert und die noch größeren kommenden Taten verkündet. Auch wenn das nur ein kleiner handverlesener Kreis vor Ort erleben konnte, gab es wenig später die Rede als PDF-Datei auf der Homepage der Stadt zum Nachlesen.

Doch diesmal, Pustekuchen! Der Empfang wurde aus verständlichen Gründen gestrichen! Stattdessen bekam der Bürger das altvertraute „Liebe Radebeulerinnen und Radebeuler, sehr geehrte Damen und Herren“ im ersten Amtsblatt des neuen Jahres, ein Interwiev des OB in der Sächsischen Zeitung mit der aufmunternden Überschrift „Die Haushaltslage trübt sich spürbar ein“ und als Novum: eine Video-Botschaft auf der Internetseite der Stadt. Das hat natürlich Verwirrung gestiftet. Guter Rat war da teuer. Was anschauen, was weglassen? Oder sind alle Beiträge wichtig?

Als Augenmensch habe ich mich selbstverständlich für die Videobotschaft entschieden. Den Oberbürgermeister im rosa Hemd neben einem weihnachtlichen Strauß und einem rauchenden Räuchermännchen in seinem Dienstzimmer zu erleben, wie er zu den Bürgern spricht, schien mir verlockend. Bedacht hatte ich allerdings nicht, dass mein PC erst noch auf dem neusten Stand der Technik gebracht werden müsste. Der verfügt über keinen Lautsprecher! Dennoch war für mich der 16-minütige Streifen auch ohne Ton ein Genuss. Schließlich fand ich neben dem Videoclip noch einen Text, der aber außer den ermunternden Grußworten des OB eine Art Information zur Sachlage darstellte. Wirklich schade, gern hätte ich noch eine frohe Botschaft vernommen.

Neujahrsbotschaften, so wenigstens mein bisheriges Verständnis, berichten darüber was war und was kommen könnte und vermitteln in der Hauptsache Aufmunterndes und Hoffnungsfrohes für künftige Zeiten. Die Botschaft aus dem Interview des OB mit der Sächsischen Zeitung könnte man mit den Worten „Gürtel enger schnallen“ zusammenfassen. Wo aber der OB die „positiven Überraschungen“ hernehmen will, die sich nach seiner Meinung die Menschen verdient haben, hat er schließlich dort nicht verraten. Seine Antworten auf die vielen von Silvio Kuhnert angesprochene Probleme fallen recht bescheiden aus. Da könnte es sein, dass die Meißner Straße noch vor Wald- und Weintraubenstraße saniert wird. Auch der innovative Teil des Sanierungsgebietes Radebeul-West wird wahrscheinlich mit den möglichen Parkplätzen in der Güterhofstraße und einem plötzlich aufgenommenen Spielplatz im Apothekerpark bescheidener ausfallen als geplant, zumal dafür an anderer Stelle Parkplätze und ein Spielplatz wegfallen sollen. Die Verhandlungen über die Nutzung von Post und Bahnhof laufen ja auch schon über Jahre.

Neben mahnenden Worten, Verhaltenshinweisen und der Aufforderung „sich an Regeln zu halten“ – schließlich tue dies die Verwaltung ebenso – hatte der OB aber doch noch eine frohe Botschaft für seine Bürger: Jeder sollte „sich selbst nicht ganz so wichtig nehmen“.

Euer Motzi

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