Radebeuler Miniaturen

Zorn unterm erwachenden Grün

Ulrike also. Im ersten Überschwang hatte ich sie „Persönchen“ tituliert. Das war ein Fehler. Ich kann nur hoffen, daß sie das nie erfährt, denn sie kann sehr schnell sehr zornig werden.

Wir treffen uns an der Hoflößnitz. Ich bin schon etwas eher unter den Kastanien, sie muß nicht gleich beim ersten Mal erleben, wie mir auf der Treppe die Luft wegbleibt. Es ist einer von den ganz frühen Sommertagen. Obwohl die dicken Knospen schon die Blüte ahnen lassen, ist noch alles still hier, denn es darf niemand draußen sitzen mit seinem Weinglas. Schade, denke ich, da fehlt was …

Aber da kommt sie auch schon: wie erwartet zornig:

Vergessen, ruft sie schon von weitem, das Maß, es ist vergessen, verloren gegangen, verspielt, was weiß ich, vergraben womöglich, zur Unkenntlichkeit entstellt, mit voller Absicht natürlich …

Nu mal langsam, versuche ich sie zur Begrüßung vorsichtig in den Arm zu nehmen, vielleicht finden wirs ja gemeinsam wieder…

Ihr Blick nagelt mich an einen der Bäume.

Jetzt hör mir doch erstmal zu, faucht sie, und ihre vibrierende Stimme jagt mir die Gänsehaut über den Rücken. Laß mich ausreden und spare dir deine albernen Kommentare.

Also im Ernst: Über Jahrhunderte war die Hoflößnitz gültiger Maßstab für jegliche Bebauung in den Lößnitzen. Der Kurfürst hatte sein Berg- und Lusthaus im ländlichen Stil und in ländlicher Bauweise gehalten – da stand es weder dem Adel noch sonst wem an, etwa größer und protziger zu bauen. Das Verbindende war das Maß. Das ist nicht meine Idee, das steht alles aufgeschrieben in der wunderbaren Festschrift zum Jubiläum vor zwanzig Jahren. Alles fachlich fundiert von Professor Magirius. Das könnten alle wissen. Das sollten alle wissen. Und den Verantwortungsträgern sollte das Buch* zur Pflichtlektüre gemacht werden…

Aber – und hier holt sie Luft – sieh dich um, wies heute aussieht: Heute ist jeder Kleingärtner König. Keine Spur von Maß, keine Spur von ländlicher Bauweise!

Selbst Bauernhäuser werden aus dem Ganzen in Beton gegossen und gesichtslos und mit dem Hintern zum Betrachter an die Straße gestellt. Früher wurde den Leuten stolz die schöne Seite gezeigt.

Wie schön sie ist in ihrem Zorn, denke ich, sage aber, ich hab Durst. Ist doch schade, daß es keinen Ausschank gibt bei dem Wetter.

Damit aber stoße ich ein neues Tor auf:

Das ist gleich das nächste, fährt sie auf, der Maßstab kann auch unterschritten werden. Über Jahrhunderte hätte es niemand gewagt, solche Allerweltsbuden neben ein „Berg- und Lusthaus“ zu stellen! Das ist einfach unwürdig. Da ist der beste Wein nur ein schwacher Trost. Ja, denke ich, manchmal ists gut mit neuen Augen durch die Landschaft zu gehen. Allein wirst du blind.

Mit der sinkenden Sonne sind wir noch auf einen Schluck zu ihr gegangen. Es gibt ja keine Gelegenheit jetzt, irgendwo zu sitzen. Wir haben dann den Film nochmal gesehen, wie ich – erinnert euch an „VuR“ vom März – in der virtuellen Kneipe nach dem virtuellen Bier versuche zu greifen. Ulrike hat mir extra eine 3-d-Brille gegeben, der Durst ging dennoch nicht weg. Sie hat sich trotzdem köstlich amüsiert. Auf meine Kosten natürlich. Aber wenn sie lacht, ist sie doch am schönsten – da nehme ich das gerne in Kauf.
Und Rotwein gabs auch noch.

Der Zorn ist unter den erwachenden Kronen auf der Terrasse geblieben.

Thomas Gerlach

*Festschrift 600 Jahre Hoflößnitz, 2001

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