Wer war Oskar Ernst Bernhardt alias Abd-ru-shin?

Wer würde vermuten, dass vor 100 Jahren, ab 1921, sich in Kötzschenbroda für einige Zeit ein Mann mit Namen Oskar Ernst Bernhardt niederließ, der dann in der Folgezeit unter dem Namen Abd-ru-shin begann, eine umfassende Heilslehre abzufassen, die als „Gralsbotschaft“ weltweit bekannt wurde? Wer hätte gedacht, dass aus unserer Region der Begründer einer überkonfessionellen Bewegung stammt, deren Grundtext „Im Lichte der Wahrheit“ in mittlerweile 22 Sprachen übersetzt wurde? Und wer würde sich nicht darüber wundern, dass ich auf die Spur dieser Angelegenheit nicht etwa beim Besuch des Stadtarchivs oder der Lektüre einer heimatgeschichtlichen Abhandlung gelangt bin, sondern bei einer Fahrradtour im August 2021 durch unbedeutende Dörfchen im Salzburger Seenland? So viele Fragen – die Antworten werden nach und nach folgen! In meinem zweiteiligen Beitrag zeichne ich das Leben von Oskar Ernst Bernhardt nach (Teil 1) und gebe im nächsten Heft eine knappe Einführung in die Gralsbotschaft, die zwar an das Christentum angelehnt ist, sich in einigen zentralen Fragen aber auch grundlegend davon unterscheidet.

Foto: Gralsbotschaft


Als Oskar Ernst Bernhardt vermutlich im Laufe des Jahres 1921 von Dresden auf die damalige Meißner Straße 15 (heute vermutlich Dürerstraße 2a, gegenüber der Musikschule)1 in Kötzschenbroda zog, hatte er schon ein bewegtes Leben hinter sich. Am 18. April 1875 als Sohn eines Gerbers und Gastwirtes in Bischofswerda geboren2, schloss sich an Schulausbildung und kaufmännische Lehre eine sehr erfolgreiche Berufstätigkeit als Geschäftsmann vor allem in der Schweiz an, was Bernhardt recht schnell vermögend machte, sodass er sich bereits 1900 und 1902 längere Reisen in den Orient leisten konnte. Vermutlich unternahm er diese ohne seine erste Frau Martha, geb. Oeser, die er 1897 geheiratet und mit der er zwei Kinder hatte. Was auch immer der konkrete Auslöser für seine Abwendung vom Geschäfts- und Arbeitsleben gewesen war: Ab etwa 1907 sah sich Bernhardt vor allem als Schriftsteller und veröffentliche nach und nach Texte sehr unterschiedlicher Art (Reiseberichte, Novellen und Romane), vor allem aber Bühnenstücke, mit denen er beispielsweise in Mainz und Kassel auch erfolgreich war. 1912/13 verbrachte Bernhardt einige Zeit in New York, später in London, wo man ihn nach Beginn des 1. Weltkrieges als Feind identifizierte und für vier Jahre auf der Isle of Man internierte. Keine der von mir konsultierten Quellen gibt Aufschluss darüber, was genau der Grund für die Internierung war. Ich kann mir nicht vorstellen, dass allein die Tatsache, dass Bernhardt Deutscher war, der Auslöser gewesen sein soll, zumal er die Jahre zuvor nicht im Kaiserreich gewohnt hatte und vermutlich inzwischen auch sehr gut Englisch sprechen konnte. Während der Jahre im Lager scheint sich Bernhardt dann verstärkt religiös-philosophischen Themen zugewandt zu haben. Auf der Website der in Österreich ansässigen Zentrale der Gralsbewegung wird diese entscheidende Lebenswendung so dargestellt: „Die vierjährige Gefangenschaft ließ ihn die innere Not der Menschen miterleben, die aus dem Chaos der zerbrechenden alten Wertordnungen keinen Ausweg mehr fanden. Der Wunsch erwachte in ihm, hier durch ein Wissen um die entscheidenden übergeordneten Zusammenhänge zu helfen.“ Was sich etwas nebulös liest, entpuppt sich bei näherer Betrachtung als ein radikaler Bruch mit seinem früheren Leben als Geschäftsmann und Reisender, denn in dieser Zeit müssen die Anfänge seiner Lehre, der später so benannten „Gralsbotschaft“, liegen, die er ab 1923 und bis 1938 in Form von Vorträgen niederschrieb. Möglicherweise hat nicht nur das eigene Erleben in Gefangenschaft, sondern auch der Tod seines Sohnes als Soldat im Krieg zu einer Abkehr von der irdischen Wirklichkeit geführt, weil diese ihm zu schrecklich erscheinen musste. Zu diesem Bruch gehört weiterhin, dass sich Bernhardt einige Jahre nach seiner Rückkehr aus dem Lager von seiner Frau zu entfremden schien und sich 1924 schließlich scheiden ließ. In den Einwohnerverzeichnissen der Gemeinde Kötzschenbroda 1921-1923 ist O.E. Bernhardt mit Wohnsitz Meißner Straße 15 eingetragen, 1924 nur noch Martha Bernhardt mit dem Hinweis, Ehefrau eines Kaufmanns zu sein. Allerdings lautet der Eintrag für dieses Jahr auf Hainstraße 2. Maßgeblicher Grund für die Trennung war augenscheinlich, dass sich O.E. Bernhardt während der ca. drei Jahre seines Aufenthaltes in Kötzschenbroda in die Vermieterin der Familie, eine gewisse Maria Freyer verliebt hatte, die ab 1920 auf der Meißner Straße 15 gemeldet war (zuvor wohnte sie auf der Grenzstraße 44). Frau Freyer war Witwe mit den drei Kindern Irmingard, Alexander und Elisabeth und selbst Adoptivtochter eines Pfarrers Kauffer3, mehr habe ich zu ihrem Vorleben in Kötzschenbroda nicht in Erfahrung bringen können.

Vermutlich im Laufe des Jahres 1923 zogen Bernhardt mit seiner zweiten Frau und den angenommenen Kindern nach Tutzing bei München, fünf Jahre später nach Vomperberg bei Innsbruck in Tirol. Zu dieser Zeit hatte Bernhardt schon eine Anzahl Anhänger gefunden, die seine ab 1923 unter dem Pseudonym Abd-ru-shin in der Zeitung „Gralsblätter“ verbreiteten Vorträge begeistert aufgenommen hatten und die zugrundeliegende Lehre im Alltag leben wollten. Zu diesem Zwecke gründete die Gemeinschaft auf dem Vomperberg eine Siedlung, wo sie sich auch heute noch befindet. Die nächsten 10 Jahre sind schlecht belegt. Vermutlich lebte Bernhardt umgeben von seinen Anhängern ein zurückgezogenes, kontemplatives Leben: „So entstand auf einem 32ha großen Gelände eine Siedlung mit Reihenhäusern und Gemeinschaftseinrichtungen: Andachtshalle, Gästehaus, Schule, Feuerwehr, Landwirtschaft, Schreinerei, Gärtnerei u.a. Später kamen noch weitere Gästehäuser und eine Reitschule dazu. Unter den Anhängern war eine beträchtliche Reihe begüterter Persönlichkeiten aus den Kreisen der Wirtschaft sowie Akademiker und Künstler. Aber auch einfache Leute steuerten nach Kräften bei.“4 1938, nach dem Anschluss Österreichs an Hitlerdeutschland, wurde Bernhardt enteignet und abermals verhaftet und für sechs Monate eingesperrt. Über den Umweg Görlitz gelangte er 1939 nach Oberkipsdorf/Erzgebirge, wo er bei einem seiner Anhänger, dem aus Berlin stammenden Fabrikanten Otto August Wilhelm Giesecke im damals so benannten Dorfgasthof Bergschlösschen, dem späteren Schweizerhof, Unterschlupf fand.5 Den Quellen nach zu urteilen stand Bernhardt unter dauerhafter Bewachung der Gestapo, fühlte sich quasi verbannt und wurde daran gehindert, seine Lehre weiter zu verbreiten. Allerdings überarbeitete er im Erzgebirge seine Gralsbotschaft und schloss eine Fassung „letzter Hand“ noch ab, bevor er am 6. Dezember 1941, also vor 80 Jahren, starb und fünf Tage später in Bischofswerda kirchlich beigesetzt wurde. 1949 wurde der Sarg nach Vomperberg überführt und in einem noch heute bestehenden pyramidenförmigen Grabmal beigesetzt. Später wurden in diesem Grabmal auch noch seine Frau (1957) sowie zwei seiner Kinder bestattet.

Bernhardts Wohnhaus, heute Dürerstraße 2a
Foto: S. Graedtke


Es überrascht mich, dass zu Bernhardt trotz seiner bemerkenswerten Rolle, die er als Begründer der Gralsbewegung für seine inzwischen weltweite Anhängerschaft spielt, im Radebeuler Stadtarchiv keine Eintragungen vorhanden sind, auch im Stadtlexikon fehlt ein Hinweis. 2015 geht der Verfasser eines wissenschaftlichen Artikels zur Gralsbewegung von etwa 40000 Menschen weltweit aus, die sich ihr zugehörig fühlen, davon mehr als 3000 in Deutschland6. Wie auf der Internetseite der Gralsbewegung Deutschland mit Sitz in München zu lesen ist, gibt es hierzulande 24 Gralskreise, wovon der sächsische der einzige auf dem Gebiet der früheren DDR ist. Dieser versammelt sich in Bernhardts Geburtshaus in Bischofswerda auf der Kirchgasse 2, dem Haus „Gambrinus“.

(Fortsetzung folgt)

Bertram Kazmirowski

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