Ein neues Kapitel in der Geschichte eines ehrwürdigen Hauses

Historische Ansicht
Foto: O.Schlenk: „1874 – 1934: Erinnerungsblätter aus 6 Jahrzehnten“, S. 57.

Wer von Radebeul nach Dresden fährt, konnte seit dem letzten Jahr beobachten, wie ein altes Gebäude im Gelände des ehemaligen Hauptwerks des Arzneimittelwerk Dresden, wo jetzt die Arevipharma GmbH ihren Sitz hat, eine erstaunliche Veränderung erfuhr. Aus dem grauen Gebäude mit leichten Verfallserscheinungen ist ein beeindruckendes Bauwerk entstanden. Die zahlreichen Radebeuler mit Bezug zum ehemaligen AWD wissen, dass es sich um das altehrwürdige Forschungsgebäude handelt. Um 1910 in der jetzigen Form errichtet, wurden darin von engagierten Chemikern zahlreiche chemische Verbindungen synthetisiert und mit Hilfe von Pharmakologen zu Arzneimitteln, aber auch anderen wichtigen chemischen Produkten entwickelt. 1995 wurde das unter Denkmalschutz stehende Laborgebäude von der AWD GmbH geschlossen, da weder die technisch-baulichen noch die für die Sicherheit der Mitarbeiter notwendigen Voraussetzungen einen weiteren Laborbetrieb zuließen. Die Jahre vergingen, und ein sinnvoller Verwendungszweck wurde weder durch die AWD GmbH noch die Nachfolgeunternehmen, die meist unter schwierigen Bedingungen ums Überleben zu kämpfen hatten, gesehen. Aber es gibt offenbar noch Investoren, die den richtigen Blick für solche besonderen Denkmale haben. Sie bewiesen dies schon mit dem Gebäude-Ensemble Deutsche Werkstätten Hellerau. Büros in historischen Fabrikgebäuden ist offenbar eine Spezialität der BIV Beteiligung für innovative Vermögensanlagen GmbH und der Dr. Thiele Vermögenstreuhand GmbH.

Nach vollendeter Sanierung, 2021
Foto: W. Rattke, S.16 DDV Edition

Aber da ist noch ein weiterer Aspekt: Es gab Informationen, dass die Investoren Interesse daran haben, nicht nur das Ambiente der Labore als Büroräume zu nutzen, sondern auch im Gebäude darzustellen, welche Wissenschaftler dort erfolgreich tätig waren und welche Produkte erfunden wurden. Das führte dazu, dass eine kleine Arbeitsgruppe ehemaliger in diesem Gebäude beschäftigter Forscher Kontakt zu den Investoren aufnahm und trotz der pandemiebedingten Schwierigkeiten mehrere Treffen mit Herrn Rechtsanwalt Voigt als Vertreter der Investoren stattfanden. Ein Austausch der Ideen und Vorstellungen, wie die Gestaltung aussehen könnte, erfolgte: Wer waren die Chemiker, denen in diesem Forschungsgebäude bedeutende Erfindungen gelangen? Welche Produkte und Arzneimittel waren das?

Haupteingang
Foto: W. Rattke, S.16 DDV Edition

Die Namen Dr. Friedrich von Heyden, Prof. Hermann Kolbe und Prof. Schmitt sind untrennbar mit der Historie des Werkes verbunden. Die Erfindung der technischen Herstellung der Salicylsäure führte zum weltweit ersten industriell hergestellten Arzneimittel und die erfolgreiche Produktion lief bereits seit 1875 in Radebeul. Die Arbeitsgruppe kam überein, dass von den im Forschungsgebäude tätigen Wissenschaftler fünf besonders hervorgehoben werden sollten. Ihre Verdienste zur Entwicklung der Chemischen Fabrik von Heyden und der nachfolgenden Unternehmen bis zum Arzneimittelwerk Dresden waren von großer Bedeutung.

Orginalgetreu wiederhergestellte Einfriedung
Foto: W. Rattke, S.16 DDV Edition

1. Prof. Dr. Richard Seifert (1861 – 1919) wurde 1885 als wissenschaftlicher Chemiker eingestellt, 1899 technischer Direktor und später wissenschaftlicher Leiter der Firma. 1892 erfolgte die Ausarbeitung der Rezeptur von Odol Mundwasser für seinen Freund Karl August Lingner. Neben den zahlreichen weiteren therapeutisch wirksamen Derivaten der Salicylsäure waren die Farbstofftechnik und die Süßstoff-Produktion seine wichtigsten Arbeitsgebiete. 1918 musste er aus gesundheitlichen Gründen von seiner Tätigkeit in der Chemischen Fabrik von Heyden zurücktreten.

Das alte Werktor, restauriert
Foto: W. Rattke, S.16 DDV Edition

2. Prof. Dr. Richard Müller (1903 – 1999) wurde 1933 als Laborleiter eingestellt und arbeitete zunächst mit kolloidchemischen Präparaten. 1941 gelang ihm die technische Herstellung von Silikonen. Dafür erhielt er 1951 den Nationalpreis der DDR. Ab 1946 war er Leiter des Laboratoriums für organische Siliziumverbindungen. Daneben war Dr. Müller bis 1953 wissenschaftlicher Leiter verschiedener Forschungs- und Entwicklungsbereiche. Von 1953 an war er bis 1972 Leiter des 1952 aus der Chemischen Fabrik von Heyden ausgegliederten VEB Silikonchemie, später des Instituts für Silikon- und Fluorcarbonchemie. Parallel lehrte er seit 1954 an der TU Dresden (vgl. auch die dreiteilige Serie zu R. Müller in V&R 7-9/2004).

3. Dr. Erich Haack (1904 – 1968), in den 1930er Jahren eingestellt, arbeitete vor allem auf dem Gebiet der Antidiabetika, seit den 1940er Jahren leitete er die Forschung. Dieses ganz neue Therapieprinzip bei der Behandlung der Zuckerkrankheit führte anfänglich zu starken Nebenwirkungen. Wegen des Verbots der weiteren Arbeiten am Sulfonamidpräparat Loranil durch das damalige Ministerium für Gesundheitswesen gab er die Funktion 1952 auf und verließ die DDR, um die Arbeiten bei der Fa. C.F. Boehringer & Söhne GmbH in Mannheim mit Erfolg fortzusetzen

4. Dr. Ernst Carstens (1915 – 1986) begann 1947 seine Tätigkeit als Mitarbeiter von Dr. Haack, wurde ab 1952 Gruppenleiter und ab 1953 Leiter des Forschungs- und Entwicklungsbereichs. Neben der ebenfalls erfolgreichen Fortführung der Arbeiten an den synthetischen Antidiabetika waren es besonders neue Herz-Kreislaufmittel die zu wichtigen Präparaten wurden. Dafür wurde Dr. Carstens 1961 und 1980 mit dem Nationalpreis der DDR ausgezeichnet. Unter seiner Leitung wurden außerdem 40 Syntheseverfahren für generische Wirkstoffe entwickelt.

5. Dr. Klaus Femmer war Leiter der Pharmakologie im AWD und an einer Vielzahl von Entwicklungen beteiligt. Die Pharmakologie war teilweise im Forschungsgebäude untergebracht.

Natürlich sind herausragende Leistungen nur durch eine große Zahl engagierter Mitarbeiter zu erreichen. Über die vielen Chemikerinnen und Chemiker, Laborantinnen und Laboranten, die Jahrzehnte engagiert dazu beitrugen, ist in den Patenten, Publikationen, Forschungsberichten und Laborbüchern nachzulesen. Die Gestaltung der Information über die historischen Persönlichkeiten und der Auswahl aus den zahlreichen Produkten ist noch nicht abgeschlossen, könnte aber in Kürze erfolgen. An dem hergerichteten ehemaligen Forschungsgebäude (von Insidern auch als „Lokal 59“ bezeichnet“) soll auch ersichtlich sein, dass die Gesellschaft Deutscher Chemiker (GDCh) den Standort mit dem Programm „Historische Stätten der Chemie“ würdigte. Das erfolgte am 1. Oktober 2012. Eine Gedenktafel ist im Eingang zur Arevipharma GmbH angebracht (vgl. auch V&R Heft 2/2013).

Die Rücksprache mit der GDCh zu den Möglichkeiten, auch das nun ausgegliederte ehemalige Forschungsgebäude in die Verleihung des Titels „Historische Stätten der Chemie“ einzubeziehen, zeigte deren großes Interesse an der in Radebeul realisierten Idee, Büros in einer ehemaligen chemischen Fabrik zu errichten. Das Haus ist jetzt fertig gestellt und wohl überwiegend vermietet. Der Eingangsbereich ist attraktiv geworden und nicht mehr wie seit Jahrzehnten hinter dem Werkszaun versteckt. Der Zaun wurde übrigens originalgetreu restauriert und selbst das alte Werktor wieder eingebaut. Die Investoren planen, einen „Tag der offenen Tür“ durchzuführen, an dem man zumindest teilweise das Gebäude in Augenschein nehmen kann. Ein Termin steht bisher aber nicht fest. Es ist aber zu erwarten, dass das Interesse groß ist, einen Blick hinter die Fassade zu werfen.

Die GDCh wünscht sich, dass die Arbeitsgruppe über den weiteren Fortgang informiert.

Wilfried Rattke

Quellenangabe: Die historische Ansicht ist entnommen aus: O.Schlenk: „1874 – 1934: Erinnerungsblätter aus 6 Jahrzehnten“, S. 57.

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