Wenn man über die Historie der Lößnitz redet, kommt man an der Reblaus-Katastrophe nicht vorbei. Oftmals wird sie als Grund für die historische Parzellierung genannt: stillgelegte Weinbergfla?chen lockten Spekulanten an, die wertlose Grundstücke aufkauften und mit Häusern bebauten. Doch eigentlich war die Reblaus-Katastrophe nur das Tüpfelchen auf dem „i“, denn die Siedlungsent-wicklung begann schon einige Jahre früher. Die zunehmende Industrialisierung und der Anschluss an die Dresden-Leipzig-Eisenbahn hatten auch in den Lößnitzortschaften zu einer regen Bautätigkeit geführt. Fabrikbesitzer, Militärs, Beamte, Rentiers – wer ein bisschen Geld sein Eigen nannte, konnte sich hier seinen Wohntraum zu moderaten Preisen in landschaftlich reizvoller Lage erfüllen.
Im Stadtarchiv kann man seit einiger Zeit die alten Bilanzbücher der Baufirma Gebr. Ziller einsehen, in denen sich diese Entwicklung perfekt nachvollziehen lässt. In den Büchern notierten die Baumeister akribisch alle Ausgaben und Einnahmen. Mitte der 1860er Jahre waren das noch recht wenige – der Bauboom hatte noch nicht begonnen. Beim Lesen schmunzelt man über manch private Ausgabe, die sich zwischen Löhnen, Baumaterialaufwendungen oder den Kosten für Fuhren findet. „Mama Ziller“ bekam wöchentlich 10 Taler Wirtschaftsgeld, ein „Service für Ottos Geburtstag“ kostete etwas mehr als
3 Taler, ein Boule-Ball für 3 Taler und 15 Groschen wurde angeschafft und der Bruder in Wien mit 40 Talern unterstützt. Auch in den 1870er Jahren ging es bei Zillers noch gemächlich zu. Die Auftragslage war gut, das ist unbestreitbar, aber noch immer wurden nur einzelne Bauplätze in den Büchern benannt. Erst ab Ende 1870 weitete sich das Ziller‘sche Baugeschehen extrem aus. Im Bilanzbuch ist nun von „Baukomplexen“ die Rede, z. B. vom „Baukomplex Sophienstraße“ oder „Baukomplex Nizzastraße“. Moritz (1838-1895) und Gustav Ziller (1842-1901) erwarben Grundstücke im großen Stil und begannen diese in eigenem Auftrag zu bebauen. Ganze Straßenzüge entstanden unter ihrem Wirken. Das war ein neues Geschäftsgebaren, welches sich nicht nur die Zillers zu eigen machten. Auch andere Baufirmen, wie „Schilling & Gräbner“ mit der „Villenkolonie Altfriedstein“ oder die „Baufirma F. W. Eisold“ aus Serkowitz, waren mit dieser Art des Bauens in der Lößnitz aktiv. Selbst Privatpersonen versuchten, mit Bauspekulation das große Geld zu machen. So hatte beispielsweise der Berliner Kunstgärtner Otto Teske (1847-1904) Familien-Landbesitz im Berliner Umland zu solch hohen Preisen verkauft, dass er sich 31jährig als Rentier in Niederlößnitz niederlassen konnte. Wahrscheinlich ging er davon aus, dass sich Dresden in naher Zukunft ähnlich wie Berlin ausdehnen würde und er die Grundstücke mit Gewinn verkaufen konnte. 1872 erwarb er die Moritzburger Str. 12 mit viel Bau- und Feldland. 1890 zog er in die Schulstr. 22 (heute Ledenweg 30) um. Sein dortiger Grundbesitz war riesig. Er projektierte und erschloss u.a. 1891/92 die untere Thomas-Mann-Straße, die damals inoffiziell „Teskestraße“ genannt wurde, ließ zwei große Mietvillen bauen (Nr. 1 und Nr. 2) und errichtete an der Kreuzung zur Karl-Liebknecht-Str. ein Kaiser-Wilhelm-Denkmal. Nicht immer gingen die Spekulationen gut, manch einer brachte sich damit um Kopf und Kragen. Beim einstigen Kötzschenbrodaer Gemeindevorstand Woldemar Vogel endete es 1889 gar im Suizid. Aber zurück zu den Zillers. Wie lief die Bebauung nun tatsächlich ab?
„Baukomplex Friedlandstraße“
Das Baugeschehen der kleinen Straße steht exemplarisch für viele Straßen zur damaligen Zeit. 1880 erwarb die Baufirma Gebr. Ziller von Pauline Marie Haase ein Feldgrundstück für 6.900 Mark. Die Parzelle 632 des Flurbuches Serkowitz gehörte ursprünglich zur Villa Friedland (heute Bennostr. 11), welche im Besitz der Witwe von Prof. Carl Friedrich Haase war, einem bekannten Mediziner der Medizinischen Akademie zu Dresden, der 1846 den jungen Karl May wegen seines Augenleidens behandelt hatte. Das erworbene Land hatte eine Größe von 1 Hektar und 10,9 Ar (11.090 m2). Nach Steuern und Gebühren wiesen die Zillers für diese Parzelle einen Bodenrichtwert von 68,11 M/Ar aus, was heute unglaublichen 4,56 Euro/m2 entspricht.* Auch für damalige Verhältnisse war dieser Bodenpreis äußerst günstig und regte Spekulationsgeschäfte an. Allerdings muss man auch sagen, dass man mit dem sandigen Boden kaum etwas anderes anfangen konnte.
Auf ihrem neu erworbenen Land legten die Zillers zuerst den Verlauf der neuen Straße fest. Das durfte nicht einfach willkürlich geschehen. Die Neuanlage von Straßen und Plätzen und die Errichtung von Wohngebäuden regelte die Lokalbauordnung der Gemeinde. Im öffentlich einsehbaren Bebauungsplan mussten die Straßen vor dem Bau als „neu anzulegende Straße“ oder zumindest als Weg enthalten sein. Ein verpflichteter, neutraler Geometer (in der Lößnitz war dies oft der Dresdner Geometer Emil Überall) bestimmte Richtung, Breite und Einmündung in die anschließenden Straßen, das Straßenniveau zur Entwässerungsregelung sowie der Baufluchtlinie der geplanten Hauptgebäude. Die hierdurch entstehenden Kosten trug selbstverständlich der Bauunternehmer.
Am 29. September 1880 ersuchten die Gebr. Ziller bei der Gemeinde Serkowitz um die Genehmigung einer neuen Straße, die den Namen „Friedlandstraße“ erhalten sollte. Am 20. Oktober 1880 erteilte die Gemeinde die Erlaubnis, der Bau konnte beginnen. Wie in der Lokalbauordnung gefordert, bepflanzte Gustav Ziller die 175 m lange und 8m breite Straße „mit Schatten gebenden Bäumen“. Fußwege wurden angelegt: auf einer Seite der Fahrbahn ein 1,50m breiter Gehsteig, auf der anderen ein Weg von 50 cm. Die Erstellung der Straße kontrollierte die Baudeputation der Gemeindevertreter. Hatte sie nichts zu beanstanden, ging die Straße nach Fertigstellung in den Besitz der Gemeinde über, die fortan für deren Unterhaltung zuständig war. Die Kosten des Straßenbaus wurden auf die Grundstücke umgelegt.
Nun wurden die Grundstücke parzelliert. Im westlichen Teil der Friedlandstraße entstanden fünf Parzellen mit einer Fläche von 7,1 bis 18,6 Ar (heute Nr. 1-9). Das Bauland auf der östlichen Straßenseite ließ man vorerst liegen. Baugenehmigungen wurden eingeholt und mit der Errichtung der ersten drei Häuser begonnen (Nr. 1, Nr. 3, Nr. 5). Bis in die 1880er Jahre hinein bauten die Zillers vor allem zwei Haustypen, die auch in der Friedlandstraße zur Anwendung kamen: das „italienische Landhaus“ und das „Schweizerhaus“. Lt. Lokalbauordnung waren sämtliche Hauptgebäude von der Straßeneinfriedung 4,5 m abzurücken und von allen Seiten freistehend (mind. 4,5m zum Nachbarn) zu errichten. Die Bilanzbücher 1881 zeugen von einem regen Baugeschehen: Ausgaben für Mauer- und Dachziegel, Bruchsteine, Sandsteintafeln, Dachpappe, Eisenbahnschienen (!), Bauholz, Bretter, Pfosten, Nägel, Stifte, Farben, Lehm, Kies, Steinmetz- und Zimmerarbeiten, Falltür und Bodentreppe, Tischler- und Glasarbeiten, aber auch Kosten für Tapezierer sowieso Gartenkies, Bäume und Sträucher sind verzeichnet. 1882 waren die Häuser Nr. 3 und 5 bezugsfähig. Am Gebäude Nr. 1 wurde fleißig gebaut. Keines der drei Häuser hatten die Zillers bisher verkauft.
Hier half Otto Ziller (1840-1914), der einzige Kaufmann der Baumeisterfamilie. In seinem „Lößnitzwarenhaus“ (Augustusweg 11), einem Geschäft für Kolonialwaren, Delikatessen und Sämereien gab es für Interessierte einen „Nachweis für Mietwohnungen und verkäuflichen Haus- und Grundbesitz“. Neben dem Ladeneingang hingen Schaukästen, in welchen per Zeichnungen und Fotos die neuesten Zillerschen Häuser und Villen angeboten wurden. In Zeitungen und Adressbüchern erschienen Anzeigen. Interessenten konnten natürlich auch direkt im „Bau-Bureau“ der Zillers vorsprechen. Die Baufirma bot hier „… stets zum Verkauf eine Auswahl von complet eingerichteten Villen zu den verschiedensten Preisen und Größen, als auch Bauplätze in den angenehmsten Lagen der Ober- und Niederlößnitz“ an.
Die Werbung zahlte sich aus. Haus und Grundstück in der Friedlandstr. 5 fand zuerst seinen neuen Besitzer oder besser gesagt, eine Besitzerin. Frau Burghardt zahlte dafür am 27. August 1883 den Preis von 12.000 Mark. War die Gewinnmarge hoch? Das Bilanzbuch verrät, dass die Baufirma für Boden-, Gerichts-, Baukosten, die anteiligen Wasserwerks- (600 M) und Straßenbau-Kosten insgesamt 11.270,03 M aufgewendet hatte. Die Zillers erzielten demnach einen Gewinn von 729,97 M (heute etwa 4.900 Euro*). Nicht wirklich ein Knaller, das dachten sich wohl auch die Zillers, denn beim nächsten verkauften Haus lag die Gewinnmarge deutlich höher. Ende September 1883, erwarb Kommissionsrat Ludwig Grundstück und Haus Nr. 3 (ausgewiesener Gewinn: 2.006,67 M – heute ca. 13.500 Euro*).
Die neuen Bewohner hatten sich das Leben in der schönen Lößnitz sicher anders ausgemalt, als die Realität war: Ihre Häuser standen wie zwei Trutzburgen an einer von neu gepflanzten Platanen gesäumten Straße. Um sie herum Feldgrundstücke, auf denen das Unkraut wuchs. Auf dem Grundstück Nr. 1 eine aktive Baustelle mit Dreck und Lärm, denn jetzt arbeiteten die Zillers an diesem Haus mit Hochdruck weiter. Im Frühjahr 1885 wurde es endlich an den Kgl. Pr. Ökonomie-Kommissionsrat Kombst verkauft, der mit der Familie aus Ratibor hergezogen war.
Doch auch jetzt ließ sich das Leben in der „Sommerfrische“ nicht genießen, denn der Ausbau der östlichen Straßenseite (Nr. 2 – Nr. 12) begann. Auf den parzellierten Grundstücken wurden Baustellen eingerichtet. Mittlerweile hatte sich herumgesprochen, dass hier eine neue kleine Straße entstand. Nicht immer errichtete die Zillers zuerst die Häuser, bevor sich Käufer fanden. Die Grundstücke Nr. 4, Nr. 6 und Nr. 10 wurden als Bauplätze verkauft. Es war keine Frage, dass die Zillers den Bau der Wohnhäuser für die neuen Grundstücksbesitzer übernahmen. Die Parzelle am Anfang der Straße reservierte sich Otto Ziller, vis à vis zu seinem Laden. Die Häuser Friedlandstraße Nr. 8 und Nr. 12 errichtete die Baufirma wieder in eigenem Auftrag und veräußerte sie anschließend. Alle Häuser der östlichen Straßenseite entstanden zwischen 1885 und 1888. Allein die Feldgrund-stücke am oberen westlichen Teil der Straße blieben unbebaut und fanden erst viele Jahre später ihre Besitzer und Baumeister.
Über fünf Jahre hatten die ersten Bewohner die „Dauer-Baustelle Friedlandstraße“ ertragen. Dreck, Baulärm, Materialfuhren – ausgiebiges Lüften oder ein gemütliches Kaffeetrinken im Garten waren sicher nicht immer möglich gewesen. Die Idylle wurde aber nicht nur von dem Baugeschehen in der Friedlandstraße getrübt. Überall in Serkowitz, Oberlößnitz, Niederlößnitz entstanden fast zur selben Zeit Villen und Landhäuser. Das heutige Radebeul muss eine Großbaustelle gewesen sein!
Wohnqualität im Fokus
Die Schönheit der Villen-und Gartenstadt zeigte sich erst wenige Jahre später, denn die Baumeister von damals hatten das Areal als Ganzes im Blick behalten. Neben den unterschiedlichsten Villen und Landhäusern, legten sie Schmuckplätze und eine Vielzahl kleinerer Grünflächen an, wie den Fon- tainenplatz Dr.-Schmincke-Allee. Der „Verschönerungsverein für die Lößnitz und Umgebung“, dessen Gründungsvorsitzender Moritz Ziller war, tat alles, um die landschaftlichen Reize der Lößnitz zu erhalten und besser zugänglich zu machen.
Aber auch die Gemeinden übernahmen Verantwortung. So berichtete der bereits oben erwähnte Geometer Emil Überall, der 1884 mit der Erstellung des Bebauungsplanes für Oberlößnitz beauftragt war, dass die Gemeinde noch „… zu rechter Zeit für planmäßige Correktion und Verbreiterung öffentlicher Wege innerhalb der Flur Sorge tragen…“, die „zukünftigen Verkehrsverhältnisse nach menschlichem Ermessen“ im Blick. Oberlößnitz war die letzte der Lößnitzortschaften, die einen Bebauungsplan einführte. Mit den Lokalbauordnungen wurden Industriebauten in Wohngebieten abgewehrt und für eine geringe Überbauung der Grundstücke gesorgt, was deren Wert systematisch steigen ließ. Die alten Bebauungspläne sind noch heute Grundlage für Planungen, die durch den 1. und 2. Weltkrieg völlig zum Erliegen gekommen sind und erst in der Gegenwart sukzessive aufgegriffen werden.
Anja Hellfritzsch
* Mittels der früher veröffentlichten langen Reihe des Statistischen Bundesamtes und dem aktuellen Verbraucherpreisindex kann für die Mark folgende Kaufkraft berechnet werden: 1 Mark (1873) entspricht 6,70 Euro. (Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Deutsche_W%C3%A4hrungsgeschichte#Die_Mark_des_neuen_Deutschen_Kaiserreichs )