Radebeuler Miniaturen

1623 – 2023: 400 Jahre Haus Möbius

VII:

Haus und Gemeinde

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts zeigte sich die Niedere Lößnitz (wie die Obere auch), wie Goethe 1813 notierte „… über alle Begriffe cultiviret und mit Häusern bebaut …“. Freilich war das Bild, das sich ihm bot, mit dem heutigen nicht zu vergleichen. Goethe war auf der Poststraße unterwegs gewesen, die seit 1785 am Fuße der Hochterrasse verlief, dort also, wo heute die Straßenbahn fährt. Er blickte auf Hänge voller Weingärten. Der Eindruck mag ähnlich dem gewesen sein, der sich heute im Saaletal Bahnreisenden in der Nähe von Naumburg bietet. (Was der Dichter schriebe, könnte der die Meißner Straße heute erleben, male ich mir lieber nicht aus.) Damals konnte er sehen, wie sich an der Hausgasse größere und kleinere Weingüter, freilich in sicherem Abstand zueinander, aufreihten, wie Perlen auf einer Schnur. Ihre Besitzer fühlten sich, so wird erzählt, den Gemeinden, auf deren Fluren sie lagen, nicht so recht zugehörig. So schlossen sie sich 1832 zum „Niederlößnitzer Weinbergsverein“ zusammen. Zu den Erstunterzeichnern der Gründungsurkunde und zu den ersten Vorständen zählte ein Johann Gottlob Götze aus Zitzschewig. Und es war just dessen Bruder Johann David Götze, der im gleichen Jahr den Weinberg an der Hausgasse mit Haus, Weinpresse und Gewölbekeller erwarb.

Ich halte inne, fülle die Gläser neu und trinke einen Schluck.
Nur ganz am Rande, sage ich dann, sozusagen außerhalb des Protokolls, darf ich anmerken, daß jener Götze, später selbst auch „Repräsentant von Niederlößnitz“ genannt, nachher der Urgroßvater meiner Großmutter wurde.
Nun trinkt Ulrike – trinkt und staunt.
Laut einer – leider etwas lückenhaften – Familienchronik hat er auch irgendwann die Sängerhöhe besessen. Es gibt keine Jahreszahlen dazu, sicher war es lange bevor die Sänger dort in die Wirtschaft zogen. Ich bedaure sehr, diese legendäre Einkehr nicht mehr persönlich erlebt zu haben. Bei aller Wertschätzung für die Gastlichkeit in Altkötzschenbroda (auch wenn ich in einem Leben nicht alle Wirtschaften besuchen kann, möchte ich keine missen), bei aller Freude über die herrlichen Besenwirtschaften am Hang – Friedensburg und Sängerhöhe gehören zu den größten Verlusten an Lößnitzer Gastlichkeit. Und das hat nichts mit lustig zu tun.
Gut. Ich nehme noch einen Schluck, einen großen, und denke weiter.

Dann geht nämlich alles sehr schnell.
1839 fährt die Eisenbahn durch die Lößnitz. Seit 1844 halten Züge auch in Kötzschenbroda und bringen die Welt ins Dorf. (Daß inzwischen nur noch Vorortzüge hier halten, wird schon wieder als Verlust empfunden, als wolle der Wahnsinn ohne uns weitergallopieren. Gleichzeitig lassen wir das einst so prächtige Bahnhofsgebäude – wohl in der Hoffnung, der Denkmalschutz erledige sich von selbst – in aller Öffentlichkeit vor sich hin gammeln).
Jedenfalls kam mit der Bahn die Welt ins Dorf. Sie setzte jene rasanten Veränderungen in Gang, die wir bis heute Aufschwung nennen.
Götze hat das Grundstück an der Hausgasse – sehr zum Ärger der Familie – nicht einem Sohn, dem es „eigentlich“ zugestanden hätte, sondern einer Tochter, einer verheirateten Schertz, vermacht. Infolge des mit dem „Aufschwung“ verbundenen Bebauungsdruckes, dem die „Reblauskatastrophe“ deutlich in die Karten spielte, wurde die Niederlößnitz (seit 1844 eigene Gemeinde) zunehmend parzelliert.
Ernst Ludwig Schertz, seit 1854 als Besitzer registriert, ließ 1858 das Nebenhaus errichten (heute Horst-Viedt-Str. 13). Sein Nachfolger Julius Schertz besaß 1897 „nur noch das Teilstück mit den Gebäuden“.
Seit 1931 ist die Witwe Münch, geb. Schertz, in Gauernitz als Besitzerin verzeichnet.
Vermutlich von ihr hat es Alfred Möbius, der moderne Namensgeber, 1938 erworben. Als seiner Frau und ihm nach knapp vierzig Jahren die Kräfte schwanden, hat er es gegen ein lebenslanges Wohnrecht bei 10 Mark Mietnachlaß pro Monat an die Stadt abgegeben.
Nach 1990 konnten es seine Erben zurückgewinnen.
Die Grafik von Johannes Thaut aus dem Jahr 1979 zeigt die Ansicht von der Winzerstraße.
Thomas Gerlach

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