Radebeuler Miniaturen

400 Jahre Haus Möbius

VIII Haus und Welt

Mit mal eben reichlich 1.8m Scheitelhöhe gehört unser Gewölbekeller eher zu den kleineren im Ort. Dennoch hat er bei guter Vorsorge Platz genug für ausreichend Getränk. Der Gedanke, der mich eben umtreibt, macht es nun nötig, etwas ausgiebiger davon Gebrauch zu machen:

wie mehrfach angeklungen, ist es in diesem Land nicht möglich, eine längere Geschichte zu erzählen, ohne auf einen Krieg zu sprechen zu kommen.

Unser Haus, wir erinnern uns, entstand im fünften Jahr eines Krieges, der noch nicht wußte, daß er einst der Dreißigjährige genannt werden würde. Und auch von der Rolle, die der Ort Kötzschenbroda und seine Kirche darin spielen würden, ahnte zu dieser Zeit noch keiner etwas. Wir aber gedenken heute immer wieder mit Dankbarkeit, daß einmal ein Funken Vernunft von hier aus in die Welt ging.

Immerhin ist es mir gelungen, beim Gang durch die Jahrhunderte die immer wiederkehrenden Unerfreulichkeiten, die in dutzenden Schulbüchern glorifiziert wurden, zu umschiffen. An einem aber kommen wir nicht vorbei:

im fünften Jahr des bis dahin bestialischsten aller Kriege, im Jahr 1944 also, begann Alfred Möbius in weiser Voraussicht, im Obergeschoß des alten Winzerhauses zwei Wohnungen mit WC auszustatten. Leider mußte dem Umbau allerdings die alte Treppe weichen, die auf die ehemalige Galerie geführt hatte. Das Verdienst, damit ausreichend nutzbaren Wohnraum geschaffen zu haben, bleibt davon unberührt.

Der Umbau wurde von der Stadt unter dem Vorbehalt genehmigt, daß diese Aufwendungen bei einem später vorgesehenen Abriß nicht mit entschädigt würden. Aus meiner Sicht ist es bezeichnend, daß eine Administration, die vordergründig alles „Völkische“ in den Himmel zu heben vorgibt, nicht zögert, gut erhaltene Zeugnisse traditioneller Bauweise dem Straßenbau zu opfern. Wer Augen hat, der sehe!

Auch wenn die unmittelbaren Auswirkungen von Krieg und Nachkrieg derartige Vorhaben verhinderten, wurden doch bis in die 1980er Jahre immer wieder maßgebende Stimmen laut, „diese alten Buden“ endlich abzureißen.

Damals jedenfalls wurde zu allererst Wohnraum gebraucht. Zwar wurde dem Märchen vom Endsieg überall wenigstens nach außen hin pflichtschuldigst geglaubt, doch die täglich wachsenden Flüchtlingszüge aus dem Osten waren nicht mehr zu übersehen. Diese Menschen brauchten alle ein Dach über dem Kopf! Noch bis nach 1990 hat eine alte Dame hier im Grundstück ihr zu Hause gehabt, die ursprünglich aus dem ehemaligen Ostpreußen stammte …

Erneut fülle ich die Gläser.

Vielleicht sollte an dieser Stelle erwähnt werden, fahre ich nach ein paar kräftigen Schlucken fort, daß inzwischen, von allen Urkunden unbemerkt, ein Bedeutungswechsel stattgefunden hatte: das einstige Nebenhaus, stolze 235 Jahre jünger als das alte, war zum Haupthaus geworden. Noch in den Adressbüchern von 1918 und 1931 sind jeweils fünf Personen als Bewohner des Anwesens benannt (herzlichen Dank an Familie Stock, die mir die Information zugänglich machte!). Leider ist hier nicht differenziert, wer wo genau gewohnt hat.

Die Möbius`sche Modernisierung dürfte jedenfalls zu einer spürbaren Verbesserung – und vielleicht sogar Erweiterung – des Wohnungsbestandes geführt haben. Dies umsomehr, als gleichzeitig ein Waschhaus errichtet wurde, indem eine Badewanne stand, die noch lange von allen Bewohnern genutzt wurde …

Freilich gab es Rückschläge: in dem sprichwörtlichen kalten Winter 47 ist das Fallrohr der Toilettenspülung eingefroren – gedampft hat da jedenfalls nichts mehr …

Ulrike schüttelt sich, puh, das möchte ich auch nicht erlebt haben, sagt sie dann, und nach einer erneuten Trinkpause, sagt sie, ganz schön mutig, diese Bauerei – in so ’ner Zeit …

Mutig, stimme ich ein, und vor allem klarsichtig: Rechts und links fielen ganze Städte in sich zusammen, überall suchten Menschen eine Bleibe … Heute würde kaum noch einer solch ein Risiko auf sich nehmen, schon gar nicht um anderen, Fremden am Ende, zu helfen …

Wo haben, das wieder Ulrike, die beiden Möbiusse nur damals den Optimismus hergenommen? Ulrike fragts ins leere Glas hinein.

Nachdenklich steige ich in den Keller hinab …

Thomas Gerlach

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