Eine Inschrift und viele Fragen

Spurensuche zu englischen Kriegsgefangenen in Radebeul

Eigentlich schon aussortiert und fast im Schrottcontainer gelandet, rettet ein Bauarbeiter im Jahr 2010 bei Sanierungsarbeiten im »Gewerbehof Alte Radebeuler Schuhfabrik«, Gartenstraße 70/72a, ein Fensterbankblech mit einer Inschrift. »J. T. Convery« ist dort eingeritzt, offenbar ein Name, dazu »Aylesbury?Bucks«, womit die Stadt Aylesbury in Buckinghamshire in Mittelengland gemeint sein dürfte, und schließlich die Abkürzung »P.O.W.« 10 Jahre liegt das verwitterte Stück Blech im Büro einer Baufirma, bevor es zum Gesprächsthema zwischen Großvater und Enkeltochter wird. Aus dem regen Austausch der Generationen entwickelt sich die Idee für eine Schülerarbeit am Lößnitzgymnasium, die 2024 als Besondere Lernleistung im Fach Geschichte bearbeitet wurde.  

Fensterbankblech mit Inschriften
Bild: J. Funke


Im Kontext der gemeinsamen Recherche erinnert sich der Großvater an ein englisches Buch aus der Reihe »The Shoe Repairer’s Handbooks«, welches er ebenfalls in der Radebeuler Schuhfabrik gefunden hatte. Bei näherer Betrachtung fallen darin mehrere Stempel auf. Einer dokumentiert, dass es mal dem britischen Roten Kreuz gehörte, genauer der »British Red Cross Educational Books Section OXFORD«. Ein weiterer Stempel belegt, dass das Buch Kriegsgefangenen zu Ausbildungszwecken zur Verfügung gestellt wurde: »International Bureau of Education Geneva – Service of Intellectual Assistance to Prisoners of War«. Ein dritter, deutscher Stempel lautet »Geprüft, 28, Stalag IV A«. Die Abkürzung Stalag steht dabei für Kriegsgefangenen-Mannschafts-Stammlager, die römische Zahl IV für den Wehrkreis Sachsen. Dieses von der Wehrmacht verwaltete »Stalag IV A« befand sich in Hohnstein in der Sächsischen Schweiz. Stehen also Inschrift und Schuhmacherhandbuch in einem Zusammenhang? Und wenn ja, wer war nun dieser J. T. Convery?  

Diesen Fragen gingen wir nach und gelangten durch frei zugängliche Onlinedatenbanken auf erste Hinweise. So fanden wir im britischen Nationalarchiv und später auch in den Akten des britischen »War Office« einen J. T. Convery, geboren am 24. Juni 1916 in Glasgow, der ab 1944 im Stammlager IV A Hohnstein registriert war.  Die mittelalterliche Burg Hohnstein, seit 1543 im Besitz der sächsischen Kurfürsten, war Jahrhunderte lang auch oder hauptsächlich Gefängnis gewesen, bevor hier 1926 die damals größte deutsche Jugendherberge eröffnet wurde. 1933/34 nutzten die Nationalsozialisten die Burg als frühes Konzentrationslager. 1939 wurde sie zum Lager für kriegsgefangene polnische Offiziere (Oflag IV A) und ab 1941 dann zum Stammlager IV A ausgebaut. Dieses diente zum einen als Lager für kriegsgefangene Mannschaftsdienstgrade aus verschiedenen Nationen. Zum anderen war es die Verwaltungszentrale für zahlreiche Arbeitskommandos (AK) im Raum Dresden, sodass die Registrierung eines Gefangenen wie J. T. Convery nicht zwingend bedeutet, dass er auch in Hohenstein untergebracht war. 

Weitere Recherchen im Internet zum Stammlager IV A führten zu einem englischen Blog (stalagiva.blogspot.com), in welchem sich eine Auflistung einiger AK befindet, die dem Lager Hohnstein administrativ zugeordnet waren. Die Forscherfreude war groß, als wir in der Liste auch ein gewisses »Arbeitskommando 1182« in der Schuhfabrik Fritz Keyl in Radebeul entdeckten. Plötzlich schienen mehrere Puzzleteile zusammenzupassen. 

Die Kontaktaufnahme mit dem Autor des Blogs, Dr. Peter R. Gregory, der binnen eines Tages antwortete, führte zu weiteren Ergebnissen. Es stellte sich heraus, dass sein Vater selbst Kriegsgefangener in Dresden-Übigau gewesen war und seinen Alltag in einem Tagebuch festgehalten hatte. Auch sein Arbeitskommando gehörte zum Stalag IV A. Über die nächsten Monate entstand ein reger Austausch mit Dr. Gregory. Unter anderem stellte er uns zusätzliche Dokumente zur Verfügung, die es ermöglichten, den Arbeitsalltag und die Haftbedingungen der P.O.W.s teilweise zu rekonstruieren. Es handelt sich zum Beispiel um Berichte des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes mit Sitz in Genf, das während des Zweiten Weltkriegs Kriegsgefangenenlager aufsuchte und über die Verhältnisse berichtete. Darunter fand sich auch ein Bericht über das AK 1182 in der Schuhfabrik Keyl in Radebeul vom 2. Mai 1944. Aus diesem Bericht geht hervor, dass in diesem am 20.10.1943 eröffneten Kommando damals 127 britische Kriegsgefangene arbeiteten und in die Schuhproduktion involviert waren. Somit liegt es sehr nahe, dass J. T. Convery einer von ihnen war.  
Wie kam er nach Radebeul? Dokumente des britischen »War Office« ergaben, dass J. T. Convery erst in Nordafrika im Kampfeinsatz war, dort gefangengenommen und dann über Italien nach Deutschland verschleppt wurde. In Radebeul verbrachte er das letzte Kriegsjahr. Die Frage, ob J. T. Convery nach England zurückgekehrt ist, lag auf der Hand. Unsere Versuche, weitere Dokumente oder einen Kontakt zu seiner Familie zu bekommen, waren leider nicht von Erfolg gekrönt. Fest steht jedoch, dass ein J. T. Convery mit genau demselben Geburtstag (24.06.1916) am 9. April 1975 in Buckinghamshire gestorben ist.  

Jedes gefundene Puzzleteil führte uns zu neuen Fragen: Wie kam J. T. Convery zurück nach England? Wie hat seine Gefangenschaft sein weiteres Leben geprägt? Gab es weitere Firmen in Radebeul, in denen britische Kriegsgefangene eingesetzt waren? Wie steht es um die Erinnerungskultur zur NS-Kriegsgefangenschaft heute? Die Recherchen ergaben, dass speziell über britische Kriegsgefangene in Radebeul bislang wenig bekannt ist. Das eher zufällig gefundene Zeugnis der örtlichen NS-Geschichte und die in unserem Projekt gewonnenen Erkenntnisse tragen dazu bei, diese Lücke ein Stück weit zu schließen. Auch wenn direkte Zeitzeugen kaum noch gefragt werden können, gibt es noch Quellen zu entdecken, die die historischen Vorgänge erhellen können. Weiterhin steht fest, dass sich der Austausch zwischen den Generationen lohnt! Beide Seiten können enorm gewinnen und dazulernen.

Julia Steimann und Joachim Funke

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