Nachbetrachtung einer ungewöhnlichen Veranstaltung

Der Radebeuler Autor Paulus Schinew (l.) stellt die Illustratorin Laura Pilz (r.) vor. In der Mitte der Abb. Daniel Doktor vom Doktor Akustik, der zuvor einige Textstellen aus Schinews Buch vorgetragen hatte. Foto: K.U. Baum
Man kann davon ausgehen, dass auch vor 100, 200 oder gar 500 Jahren in Radebeul gelesen wurde. Sicher hatten von den 71 Bewohnern dieses Ortes um1550 nur die wenigsten dazu die Möglichkeit, setzte doch die Alphabetisierung gerade erst ein, die dann um 1800 im Wesentlichen abgeschlossen war. Freilich verwundert es den heutigen Leser, wenn dann weitere 225 Jahre später in Deutschland immer noch 6,1 Millionen Menschen der erwerbsfähigen Bevölkerung gewissermaßen nicht richtig lesen und schreiben können. Deshalb haben Bund und Länder seit etwa der letzen Jahrtausendwende eine Vielzahl von Leseprogrammen und Initiativen aufgelegt, um besonders bei Kindern dem Problem zu Leibe zu rücken.
Nun gibt es seit 2024 auch in unserer Stadt eine Vorleseveranstaltung, die gut angenommen und deshalb in diesem Jahr mit Erfolg wiederholt wurde. Es ist aber mit Sicherheit nicht der Analphabetismus in Radebeul, der die Kultur- und Werbegilde Kötzschenbroda veranlasst hat, „Radebeul liest…“ ins Leben zu rufen. Vielmehr sollte es „[e]in bunter und lesenswerter Start in den Frühling“ werden. Auch war sicher nicht an einen Lese-Marathon aller Einwohner vom 18. März bis 13. April gedacht, wie der Titel der Veranstaltung vermuten ließe. Vielmehr sollten besonders Radebeuler für Radebeuler an ungewöhnlichen Orten in der Lößnitzstadt eigene und fremde Texte vortragen. Ganz hat das nicht geklappt, aber immerhin kam die Hälfte der Vorleser aus der Stadt selbst. Insgesamt wies das diesjährige Programm in 27 Tagen 16 Lesung aus mit ebenso vielen Veranstaltungsorten, was letztlich aber zum Vorjahr einen leichten Rückgang bedeutete. Zum zweiten Mal dabei waren immerhin sieben Veranstaltungsorte, u. a. das Wolldepot von der Hauptstraße, der SZ-Treff in der Bahnhofstraße und das Kinderhaus in Altkötzschenbroda. Die Angebote reichten von Texten von Klassikern wie Ludwig Tieck und Heinrich Heine über Gegenwartsliteratur, Biografisches, Kinderliteratur und Selbstverfasstes u.a. vom Autorenkreis Radebeul „Schreibenden Senioren“. An besonderen Stellen in der Stadt waren im öffentlichen Raum Bücherkisten zum Stöbern aufgestellt. Leider wurden im Programmzettel die Standorte nicht vermerkt, sie waren aber über einen Scan-Code zu erfahren.
Den Auftakt am 18. März bestritt im Wirtshaus Sonnenhof in Altkötzschenbroda der vielseitige Tilo Schiemenz aus Meißen, der eigene „groteske Gedichte und schräge Gesänge“, teils aus seiner neusten im Notschriftenverlag herausgegebenen Publikation Am Tag des Butterbrotes, vortrug. Schiemenz wusste mit seiner vollen, tragenden Stimme die mitunter hintergründigen Texte gut zu interpretieren. Die Intimität des Veranstaltungsraumes erfuhr durch die Darbietungen auf der schmalen Vorbühne noch eine beträchtliche Steigerung. Begleitet wurde der Autor auf das Vortrefflichste durch den Komponisten und Pianisten Konrad Möhwald (Harmonium) sowie den Orgelbauer Matthias Weisbach (Violine). Freilich sprengte dieser Auftritt ein wenig den Charakter von „Radebeul liest…“, sahen doch die Besucher ein komplettes literarisch-musikalisches Programm.
Im Fotoatelier Meissner in Ost, dass schon 2024 an „Radebeul liest…“ teilnahm und sich sehr um seine Gäste bemühte, las Cara Catalina Fox Passagen aus ihrem 2023 verlegten autobiographischen Roman Tränen der Erkenntnis und außerplanmäßig gab Tabea Weingardtner Auszüge ihrer Lebensgeschichte preis. Auch wenn die Texte für die Autorinnen sicher wichtig waren, für einen Lesenachmittag schienen sie weniger geeignet.

Tilo Schiemenz trägt zur Eröffnungsveranstaltung von »Radebeul liest…« aus seinem neusten Buch Am Tag des Butterbrotes Geschichten und Gedichte vor. Foto: K. (Gerhardt) Baum
Erstmals nahm die AG Kötzschenbroda „Heimatabend mit Frühstück“ an „Radebeul liest…“ teil. Passend zur aktuellen Sonderausstellung „Kötzschenbroda in der Literatur“ in der Heimatstube in Altkötzschenbroda trugen Jana und Steffen Berger Texte aus den dort ausgestellten Publikationen vor. Besonders zu gefallen wussten dabei die Geschichten aus dem Band Radebeul – Ein Lesebuch vom NOTschriften Verlag (z.Z. vergriffen), gelesen von Steffen Berger. Die Lesung fand in den beiden Ausstellungsräumen in zwei Etappen statt, da die Räume nur je acht Personen fassten.
Das Kunsthaus Kötzschenbroda erinnerte mit der Lesung seiner Betreiber an das Stadtjubiläum 3×100 des vergangenen Jahres. Aus den aus diesem Anlass verfassten Alltagsbüchern trugen Karin Eva und Karl Uwe Baum Textstellen vor. Diese spiegelten Radebeuler Ereignisse wieder, gaben aber auch Einblicke in die Gedankenwelt der Autoren. Am Ende der Lesung entsponn sich ein lebhaftes Gespräch über das Vorgetragene sowie über die aktuelle Situation in Radebeul. Die Betreiber hatten in ihrem Hauptraum eine Caféhaus-Atmosphäre gezaubert.
Ebenfalls neu in der Runde der Veranstaltungsorte war Doktor Akustik in der Güterhofstraße. Der Betreiber stellte in einem benachbarten Geschäftsraum die 2022 herausgekommene absurde Geschichte eines Peter McGonagall vor, der im 18. Jahrhundert lebte und eine Neigung zum Wort und der Dichtkunst verspürte. Der Autor Paulus Schinew kommt aus unserer Zeit und entführte den Hörer, in eine teilweise obskure Welt, die von der Mediengestalterin Laura Pilz mit Zeichnungen illustriert wurde. Daniel Doktor vermochte die Zuhörer zu fesseln, dass sie ihren Ohren kaum glaubten.
Die für den 13. April im Programmzettel angezeigte Veranstaltung kann eigentlich nicht zu „Radebeul liest…“ gezählt werden, handelte es sich doch um die MEDIEN.KULTUR.KUNST.BÖRSE, auf der Künstler unterschiedlicher Sparten ihre Angebote unterbreiteten, auch wenn die eine oder andere Lesung eingebunden war.
Gleichwohl hat die Reihe einen guten Zuspruch gefunden. Die Gesamtkoordination lag in den Händen von Birgit Freund. Veranstaltet wurde die Reihe von der Kultur- und Werbegilde Kötzschenbroda e.V. und vom Stadtteilverein Radebeul Ost e.V. Aus der Gemeinde kam zahlreiche Unterstützung und die Stadtverwaltung förderte das Unternehmen.
„Radebeul liest…“ hat sich durchaus bewährt und sollte kommenden Jahres erneut durchgeführt werden. Vielleicht gelingt es dann noch mehr Radebeuler Autoren und Vorleser einzubeziehen. Dabei könnte die Meißner Idee aufgegriffen werden, auch Schüler aus der Stadt lesen zu lassen.
Karl Uwe Baum