Aus den Aufzeichnungen des Altbauern Max Klotzsche, Teil 2
80 Jahre nach Kriegsende druckt die ›Vorschau‹ Auszüge aus zeitgenössischen privaten Aufzeichnungen des Ortschronisten Max Klotzsche über seine Eindrücke aus jenen Maitagen in Radebeul. In der ersten Folge hatten wir den Autor verlassen, als er am Montag, dem 7. Mai 1945 auf dem Weg vom Bauernhof seines Sohnes in Altserkowitz zu seiner Wohnung auf der heutigen Heinrich-Zille-Straße Ohrenzeuge der Erschießung von Stadtrat Forner durch die SS geworden war …
Nachdem ich an der Criegernstraße [= Str. des Friedens] die Eisenbahn überschritten hatte und am Bahndamm entlang, durch die Richard-Wagner-Straße, die Meißner Landstraße weiter ging, eröffneten gegen 11.45 Uhr die bei Serkowitz befindlichen deutschen Batterien das Feuer, mutmaßlich in Richtung auf die Lößnitz. Die Abschüsse drangen grell an meine Ohren und erreichte ich auf der menschenleeren Straße gegen 12 Uhr meine Wohnung. Die Geschäftsläden in Kötzschenbroda waren am Montag früh gar nicht geöffnet worden. Im Laufe des Vormittages aber verkauften die einschlägigen Geschäfte die vorhandenen Spirituosen, um dieselben nicht in die Hände der Russen fallen zu lassen. Auch auf dem Rückzuge befindliche deutsche Soldaten waren in den Besitz von Schnaps gekommen und belästigte ein total betrunkener Infanterist an der Moritzburger Straße und Franz-Seldte-Straße [Heinrich-Zille-Str.] stundenlang die Passanten und Bewohner durch Redensarten und Bedrohen mit seinem Gewehr. Auch deutsche Männer sah man betrunken auf der Straße wanken.
Wie schon an den vorhergegangenen Tagen war auch am 7. Mai warmes, sonniges Frühlingswetter, die Natur atmete Ruhe und Frieden und stand im schroffen Gegensatz zur rohen Kriegsgewalt. Gegen 1 Uhr mittags bemerkten wir an verschiedenen Hausgrundstücken der Franz-Seldte-Straße weiße Fahnen, auch ich entschloss mich eine solche am Tor unseres Landhauses aufzupflanzen. Doch nach kürzerer Zeit kam der nationalsozialistische Blockwart und forderte die weißen Fahnen sofort einzuziehen. Ich kam dem nach. Gegen 4 Uhr schlugen feindliche Granaten in unserer nächsten Nähe ein, z. B. erhielt der Gasthof »Heiterer Blick« [Moritzburger Str. 31 (2005 abgerissen)] einen Volltreffer, im Grundstück Moritzburger Straße 5 schlug eine Granate in die rückwärtige Front und tötete zwei in der Küche befindliche Frauen. Mitten auf der Moritzburger Straße bohrte sich ein Blindgänger in das Straßenpflaster. Am Gradsteg und in Altkötzschenbroda schlugen an verschiedenen Ställen [!] Granaten ein und töteten am Gradsteg zwei Pferde.
Die deutschen Batterien auf dem Sportplatz [heute Weinbergstadion] hinter der Kaiserbrauerei [Meißner Str. 318/320] und am Wasserturm neben der Friedensburg sowie bei Serkowitz antworteten kräftig und schossen in Richtung Coswig und besonders auf den Kreyernwald. Wir Hausbewohner mit unseren in Dresden ausgebombten Untermietern hielten uns tagsüber in den Wohnungen, teils im Keller und im Garten auf. Herr S. und ich beobachteten zufällig den Volltreffer in das W.sche Grundstück in der Moritzburger Straße und sahen die Staubwolke von Mörtel und Steinen auffliegen und spürten den Luftdruck der explodierenden Granate. Um 4 Uhr vernahm man auch ab und zu Gewehr- und Maschinengewehrfeuer aus der Richtung Oberort – Lindenau. Gegen halb 7 Uhr begab ich mich auf der fast menschenleeren Straße nach dem Heiteren Blick, um zu versuchen, ob die dort befindliche Fernsprechzelle ein Gespräch mit meinem Sohn in Altserkowitz ermöglichte. Dies war natürlich nicht mehr der Fall.
Als ich aus der Fernsprechzelle trat, kamen zwei deutsche Infanteristen aus Richtung der Champagnerfabrik [Moritzburger Str. 44], der eine, durch Granatsplitter an Kopf und Händen schwer verwundet und das Gesicht vor Blut kaum erkennbar, stützte sich auf seinen leichter verwundeten Kameraden, und baten mich dieselben auf den Verbandsplatz zu bringen. Der Leichtverwundete übergab mir den Schwerverwundeten und verschwand in ein Hausgrundstück. Ein Verbandsplatz war mir nicht bekannt, und so entschloss ich mich, den Schwerverwundeten zunächst in meine Wohnung zu bringen. Dort angekommen stärkten wir den vor Erschöpfung und Blutverlust stöhnenden Kämpfer durch ein Glas Wein. Herr S. und ich kamen überein, den Schwerverwundeten nach dem als Lazarett eingerichteten Siechenhaus Bethesda [heute H.-Zille-Str. 13] zu bringen. Auf dem Wege dahin holte uns der Leichtverwundete ein und übernahm nun dieser den Weitertransport in das Lazarett.
Nach und nach verebbte das Geschützfeuer, nach kurzem Abendbrot begaben wir uns nach dem Keller, wir wussten, dass die Nacht uns wahrscheinlich die Russen ins Haus bringen würde. Doch waren wir alle gefasst und in unser Schicksal ergeben in dem Bewusstsein, dass nur der Allmächtige uns stützen und beschirmen könne. Wegen Platzmangels begab ich mich gegen 10 Uhr nach meiner im Obergeschoss gelegenen Wohnung und legte mich angekleidet aufs Sofa. […] Gegen Mitternacht erfolgte eine schwere Detonation, die unser Haus erzittern ließ. Am anderen Tage erfuhren wir, dass diese von der Sprengung der Elbbrücke bei Niederwartha herrührte. Die Sprengung dieser Brücke war ganz überflüssiger Weise von den SS-Pionieren, unter Mithilfe der an dieser Stelle eingesetzten Radebeuler Polizeimannschaften durchgeführt worden.
In der Schlaftrunkenheit hörte ich, im Zimmer auf dem Sofa liegend, fernes Rollen und Dröhnen, manchmal kurz unterbrochen, dann wieder stark zunehmend, ab und zu auch einen einzelnen Geschützdonner. Etwa 4.50 Uhr morgens setzte plötzlich starkes Geschützfeuer ein und veranlasste mich das Ruhelager zu verlassen. Ich ging auf die Straße und bemerkte auf der Moritzburgerstraße zahlreiche mit Pferden bespannte Militärfuhrwerke sowie Kraftradfahrer, von Lindenau kommend in eiligem Tempo, in Richtung Meißner Landstraße fahrend. Ich hielt diese für zurückgehende deutsche Truppen. Auf der Straße vor unserem Grundstück lag ein Sack gefüllt mit Bekleidungs- und Ausrüstungsstücken. Bei näherer Untersuchung ergab sich, dass diese Sachen einem Rittmeister L. aus Königsberg in Ostpreußen gehörten und wahrscheinlich von einem Kraftwagen heruntergefallen waren. Als ich diesen Sack in mein Grundstück bergen wollte, kamen plötzlich zwei Radfahrer, mit Maschinenpistolen bewaffnet, an mir vorüber und erkannte ich in denselben russische Soldaten. Hierdurch wurde mir und den noch im Keller befindlichen Hausbewohnern bewusst, dass im Laufe der Nacht, von etwa 12 Uhr bis 3 Uhr Kötzschenbroda von der russischen Militärmacht kampflos besetzt worden und das nächtliche Rollen und Dröhnen von den aus der Richtung Radeburg-Moritzburg, über Lindenau und den Lößnitzgrund vordringenden Panzerwagen, Geschützen und Fuhrpark herrührte.
Kurze Zeit später bemerkte ich, wie russische Soldaten in den Nachbargrundstücken die Einfriedungen und Tore überkletterten und in Wohnungen eindrangen. Auch meine Nachbarin Frau M. teilte mir kurz nach 6 Uhr mit, dass ihr Gatte seine Taschenuhr an eingedrungene Russen abgeben musste. Weiter bemerkte ich einen Russen, der auf einem Grundstück ein fast neues Fahrrad nahm und mit demselben davonfuhr, sein altes unbrauchbares ließ derselbe auf der Straße stehen und brachte ich dasselbe nach einigen Stunden in Gewahrsam. (Fortsetzung folgt.)