Weißes Roß – Geschichten aus der Kindheit – (12/12 Schluss)

Der Juli

Dieser Monat war geprägt von Muttels Geburtstag am 28. Juli. Vaterns Geburtstag habe ich nicht so in Erinnerung, er konnte ja von 1939 bis 1948 nicht bei uns sein. Aber Muttels Geburtstag war ein großer Tag. Alle Angestellten feierten die Chefin und wir bastelten und malten, was das Zeug hielt. Bei schönem Wetter wurde die Kaffeetafel im Grasgarten vor der Laube gedeckt, für uns Kinder auch etwas Besonderes. Einmal war auch die Dresdner Oma, begleitet von Tante Rosel mit dabei. Die Dresdner Oma verloren wir aber auch bald.

Im Juli fuhr Tante Emma mit uns für einige Wochen nach Oberbärenburg, ein Kinderparadies, zu dem es mich immer wieder hinzieht. An der Stelle, wo am Waldrand die Bank stand, auf der wir abends gerne saßen, steht jetzt der schöne Aussichtsturm, der einem Göpel aus dem Bergwerk nachempfunden wurde. Bei sehr klarem Wetter überblickt man das Elbtal von Meißen bis in die Sächsisch-Böhmische Schweiz. Als wir einmal auf der Bank saßen, sprach Tante Emma die unvergänglichen Worte: „Alles, alles ist vergänglich, nur der Kuhschwanz, der bleibt länglich.“ Doch hatten wir als Kinder noch keinen Begriff von der Zeit. Jeder Tag war lang, von morgens bis zum Abend. Das ist das Schöne und Einmalige an der Kindheit.

Neben der Pension Elise der beiden lieben Fräulein Spahn, wo wir unser Zimmerchen unterm Dach hatten, wohnte Tante Emma und Omas Schwester, die Tante Liesel, die ich auch sehr lieb hatte. Jeden Morgen musste ich zu ihr hinübergehen zum Haarkämmen. Tante Emma wurde mit meinem Schopf und den langen Zöpfen nicht fertig.

Obwohl Oberbärenburg inmitten seines Waldgürtels recht geschützt liegt, war doch einmal ein sehr heftiger Sturm, der mich auf dem Weg zu Tante Liesel voll erfasste und mich Dürrling ein Stückchen aushob. Zu Tode erschrocken rannte ich zu Tante Liesel, denn in mir lebte die Vorstellung vom fliegenden Robert im Struwwelpeter. Vom Winde davongetragen, wohin auch immer, getrennt von den Meinen ud hauptsächlich von Muttel, etwas Schlimmeres konnte es nicht geben. Aber Gottlob habe ich Oberbärenburg hauptsächlich bei Sonnenschein, der auf den bunten Gebirgswiesen lag, in Erinnerung. Für Wolfgang war die reine Gebirgsluft besonders dienlich, denn er hatte durch unsere dicke Elbluft asthmatische Beschwerden. Am Beginn unseres Aufenthaltes wurden wir gewogen und wir hatten bei der Heimreise immer zugenommen. Der Luftwechsel tat uns Kindern gut. Auch in Oberbärenburg waren wir immer beschäftigt und ließen Tante Emma in Ruhe. Vor allem bauten wir gerne Waldgärten. Material gab es ringsum genug. Fichtenzapfen, Borkenrinde, herrlich grünes Moos, Ästchen aller Art und helle Kieselsteine. Von Menschenhand wurde nichts davon zerstört, wir behoben im nächsten Jahr lediglich die Winterschäden.

Einmal brachte uns Vater mir dem Auto nach Oberbärenburg und wir aßen unterwegs an der Talsperre Malter zu Mittag. Das Mittagessen beeindruckte mich sehr, ich bekam ein kleines Schnitzel mit Spaghetti. Diese Zusammenstellung kannte ich nicht. Zu Hause gab es zu Schnitzel Rotkraut oder Gemüse mit Kartoffeln. Mit Spaghetti schmeckt es mir auch heute noch gut.

Mein Geburtstag fiel auch in den Juli und es waren noch richtige Geburtstage mit allen Nachbarskindern. Wir spielten „Bäumchen, Bäumchen wechsle dich“, denn der Grasgarten stand ja voller Obstbäume. Und dann „Wer will die goldene Brücke bau’n“. Dazu fassten sich gegenüberstehend zwei größere Kinder an den Händen und bildeten die Brücke. Die anderen bildeten eine Reihe und zogen unter Gesang „´wer will die goldene Brücke bau´n, wer hat sie denn zerbrochen…“ und: „der Letzte soll gefangen sein mit Spießen und mit Stangen“ hindurch. Das Kind, das zwischen die zwei Großen geraten war, wurde von ihnen mit den Armen umschlossen und musste sich dann hinten anstellen.

Den Schluss bildete dann Tauziehen, bis die Großen losließen und alles ins Gras purzelte.

Geturnt wurde auch viel, Purzelbäume vor- und rückwärts, Radschlagen und Handstand. Wolfs Hansel wurde sehr bewundert, denn er brachte einen perfekten Kopfstand zuwege.

Auf dem Geburtstagstisch stand der bunte Holzkranz mit den Geburtstagslichtern, jedes Jahr eines mehr, in der Mitte das große Lebenslicht. Tante Rosel erfüllte mir auch immer meine Wünsche. Einmal war es zum Beispiel ein langersehntes silbernes Armbändchen mit Glücksanhängern. Zum anderen Male ging mein Lieblingswunsch – und ich glaube, auch der von Wolfgang – nach einem Gartenzwerg in Erfüllung. Von Gartenzwergen wollte Muttel absolut nichts wissen. Für sie waren die Zwerge schlicht und einfach Kitsch. Tante Rosel hatte sie aber doch herumgekriegt, denn an einem Geburtstag – ich weiß nicht mehr an welchem – brachte sie zu unserem Entzücken drei Gartenzwerge mit. Ich weiß nur noch genau, dass Juttel ihrer auf einer Schnecke mit Haus thronte. Die beiden anderen waren glaube ich mit Spaten und Gießkanne bewaffnet.

So ähnlich spielte sich jeder Juli in meiner Kindheit ab.

Christa Stenzel/ Christian Grün

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