Mit Tom Tagtraum durch das Jahr 2016

Liebe Leserinnen und Leser,
seit vielen Jahren gehört Literatur zu den Themen in „Vorschau und Rückblick“, die unser Heft bereichern und lesenswert machen. War es über lange Zeit einerseits der Kreis der „Schreibenden Senioren“, deren Lyrik und kurze Geschichten aus dem Alltag für Schmunzeln und Nachdenklichkeit sorgten, andererseits Reiner Roßberg, der über viele Jahre uns an den Erlebnissen von Karalambos und dem Winzer teilhaben ließ, so verdanken wir vor allem Thomas Gerlach seit geraumer Zeit monatlich neu aufleuchtende „Radebeuler Miniaturen“. Darüber hinaus stellt uns aber auch schon einige Jahre unser treuer Leser Tobias Märksch (aufgewachsen in Radebeul, inzwischen aber seit zweieinhalb Jahrzehnten in Dresden wohnend) eigene Texte zur Verfügung, meistens Gedichte, gelegentlich aber auch Prosatexte (erinnert sei z.B. an die Weihnachtsgeschichte im Dezember-Heft 2014). Wir haben uns entschlossen, das Angebot von Tobias Märksch anzunehmen, seine bisher noch unveröffentlichten Geschichten um den liebenswerten Tom Tagtraum fortlaufend ab diesem Heft bis zum Jahresende zu publizieren. Zum einen, weil wir von der Qualität der Texte überzeugt sind, zum anderen, weil wir damit auch bislang noch nicht bekannten literarischen Talenten unter unserer Leserschaft Mut machen wollen, uns ihre Texte einzusenden. Zwar verfügt die „Vorschau“ zum Glück über einen festen Stamm an regelmäßigen Schreibern, aber wir sind immer dankbar für Beiträge, die unser Heft vielfältig machen.
Begleiten Sie also Tom Tagtraum über die nächsten 12 Monate hinweg – getreu dem Motto: Du musst Träumen ihre Entstehung zulassen, denn nur so kann irgendwann ein Teil davon auch Wirklichkeit werden.
Bertram Kazmirowski


Na? Neugierig geworden? Ihr glaubt ja nicht, was dem Tom alles passieren wird! In einem dunkelroten Zug fährt Tom einem vergangenen Traum nach; mit dem kleinen hellblauen Flugzeug bringt ihn Thomas, der Pilot, mitten im Schmuddelwetter auf eine Sonneninsel. Ob ein Oldtimer träumen kann, Herr MAY hinterm BACH wird es wissen. Tom wird in den Geschichten etwas reifer, ja erwachsener, besteht eine Aufnahmeprüfung für ein Spezialgymnasium, erfindet selber den unsichtbaren Schlittenlift, findet zu seinem Berg Überall und entdeckt in einem scheinbar wertlosen Stein im Gebirge das Geheimnis der Chemieformeln der Erde (und des Schulunterrichts). Sein kleines hellblaues Flugzeug bringt Tom in den Orient. Wundersame Schals schützen ihn in Zukunft vor Angina, nach einiger Beobachtung in Teppich-Manufakturen erkennt er, welche der Teppiche fliegen könnten und warum andere nie. Schließlich braucht’s in der Ferne eine Zauberformel, um eben den Inhalt des heimischen Sparschweins, praktischer Weise gleich in die Landeswährung „Korinthen“ gewechselt, aus einem orientalischen Geldautomaten klimpern zu lassen. Blieben vielleicht am Ende doch Zeitreisen? Mag Ferdinand, der verrückte Luftgraf, mit Nachnamen Zeppelin heißen; der stumme König Sissis Cousin Ludwig II. sein; Nick, der Astronom (Kopernikus) auf dem Domhügel heute noch zweifeln ob seiner deutsch-polnischen Doppelstaatsbürgerschaft. Nur, das wäre keine Geschichte, gäbe er Tom, der mit einem zinnoberroten Fährboot und signalrotem Flitzefahrrad mit Weitsprungfunktion ans baltische Meer zu ihm hinfuhr, nicht ein ganz verblüffendes Weltbild mit auf dem Weg, dies-zeits. Die Erde ist da gar keine Kugel mehr. Und erst die Graugänse, ist ihr Flügelschlag vielleicht der Endlosgedanke der Welt? Tom Tagtraum findet noch einmal zurück in die Märchen aus seiner Kindheit – in einem viertürmigen Schloss gibt es eine Ausstellung zur Entstehung eines Märchenfilms, der nun schon Generationen bewegt, weil, nun, man hatte damals einem Traum seine Entstehung zugelassen und er ist Wirklichkeit geworden! Das begreift auch Tom. Aus allerhand anderen, wundersamen Verkehrs- und Fortbewegungsmitteln entgleitet er dem Dichter in die Erwachsenenwelt, geradeaus,
auf einem stolzweißen Ozeandampfer.
Bliebe ein Epilog. Ich mag das Jahr ganz genau benennen, klar, wir haben’s Zweitausendännafännuffzig. Herr Tagtraum verweilt spazierstockgestützt im Park vor dem kleinen Theater. Auf dem Zifferblatt seiner Uhr reichen sich Juri Gagarin und Neil Armstrong die Hand, der Sekundenzeiger hängt schon seit Jahren. Und über der Stadt kreist ein allweis(s)es Sternenschiff. Herr Tagtraum ist glücklich auf seinem Weg nach Hause…
Und, immer noch neugierig ? Das Lesealter für diese Geschichten, nun, ich vermute, es verhält sich damit so wie mit der Klaviermusik der KINDERSZENEN op. 15 von Robert Schumann. Sagen wir ab 7 bis 107 Jahre. Aber wer weiß das schon so genau?
Tobias Märksch

Kapitel 1: Die quietschgelbe Straßenbahn
Stell dir vor, durch deine Stadt, dein Dorf oder wo immer du auch lebst, fährt eine quietschgelbe Straßenbahn. „Das gibt es hier alle Tage“, wirst du jetzt denken, lebst du, sagen wir in Ulm, Rostock, Prag, Breslau, Wien, Dresden, Budapest, Lissabon oder Bad Schandau. „Halt mal“, wirst du vielleicht erwidern, in meiner Stadt sind die Farben der Straßenbahnen aber gewitterblau, brombeerrot, pfefferminzgrün oder einfach nur reklamebunt zugeklebt. Ein simples „Kann ich mir lange vorstellen, ich müsste schon nach Görlitz, Berlin, Schwerin oder Amsterdam fahren, Krakau oder Barcelona, Lemberg oder Leipzig, um überhaupt mal Straßenbahn fahren zu können“ ist auch als Antwort zu erwarten. Gut. Alles gut und schön.
Aber unsere quietschgelbe Straßenbahn fährt jetzt gerade mitten durch die Straßen einer Stadt, in der es noch nie eine Straßenbahn gab. Schienen und Oberleitungen tauchen kurz vor der Bahn aus dem Nichts auf und verschwinden gleich nach der Durchfahrt wieder, ohne Spuren zu hinterlassen. Selbst wenn es Hochsommer sein sollte, trägt der Fahrer eine tannenbaumfarbene Pudelmütze zur gelb-silber karierten Uniform und als Krawatte hat er einen Plüschhering umgebunden.
Unsere quietschgelbe Straßenbahn wird nirgendwo halten und es gibt weder Weichen noch eine Endhaltestellenschleife. Einziger Fahrgast ist Tom Tagtraum. Zwei Sitze der Bahn sind noch mit seinem Schulrucksack und der Sportsachentasche belegt, ansonsten ist und bleibt die Bahn leer.
Das ist alles nicht möglich, magst du dem Erzähler jetzt sagen. Ja, sicherlich… Aber unsere Geschichte begann ja auch mit den Worten „Stell dir vor“. Also, stellen wir uns einfach vor, Tom Tagtraum ist auf Entdeckungsreise. Für das Weiterlesen wirst du eine gehörige Portion Fantasie brauchen und musst zulassen, dass Bilder in dir entstehen. Wenn du gern malst, dann nimm Stifte oder Farben zur Hand und mal was auf, wenn nicht, schneide aus alten Zeitschriften oder abgelegten Ansichtskarten etwas aus und klebe es auf einem Blatt Papier neu zusammen.
So werden aus Toms Träumen schon mal reale Vorstellungen in dir. Weißt du, es ist schließlich so, dass wir Träumen und Spinnereien in uns ihre Entstehung zulassen sollten, auch wenn es nur ein Teil sein wird, der sich irgendwann erfüllt und unserem Leben Sinn und Raum gibt. Und übrigens, so ganz nebenbei – dort, wo heute Straßenbahnen fahren, Flugzeuge landen, Züge durch Tunnel flitzen, Brücken kühn ihre Bahn schwingen durchs Meer, das Internet die ganze Welt in den kleinsten Raum bringen kann, Raumfähren starten, um das All zu erkunden, ja selbst da, wo so ganz unscheinbar ein wackeliger Holzsteg über einen Bach im Gebirge führt, gab’s erst mal Menschen, die wie Tom davon träumten. Mitunter teilte sich einer seiner erstaunten Umgebung mit. „Stell dir vor…!“, begann dann sein Satz und nicht selten wurde er ausgelacht und ein Tagträumer genannt. Nun, kannst du dir das vorstellen?

Tobias Märksch

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