Mit Julius Wilhelm Graebner, dessen Geburtstag sich am 11. Januar zum 150. Male jährte, und Georg Rudolf Schilling, der am 19. Dezember vor 75 Jahren starb, haben heuer zwei Baukünstler gedenkwürdige Jubiläen, die um 1900 zu den bedeutendsten Dresdner Architekten gehörten. Gemeinsam haben sie auch in der Lößnitz einige eindrucksvolle Bauten geschaffen. Entsprechend dürfte es für die Leser der Vorschau nicht ohne Interesse sein, aus gegebenem Anlass mit mir einen Blick zu tun auf zwei
Neuerscheinungen zum Wirken der Architekten Schilling & Graebner
Der aus Durlach in Baden gebürtige Julius Graebner (1858-1917) und Rudolf Schilling (1859-1933), Sohn des berühmten Dresdner Bildhauers Johannes Schilling, lernten sich Anfang der 1880er Jahre während des Studiums an der Hochbauabteilung des Dresdner Polytechnikums kennen. Nach ersten praktischen Erfahrungen in renommierten Büros der damaligen deutschen Architekturhauptstadt Berlin gründeten die beiden 1889 in Dresden die Firma Schilling & Graebner, die in dieser Konstellation bis 1917 bestand. Graebner gilt als der künstlerische Kopf der Firma, während sich Schilling, der auch Maurermeister war und als Startkapital seine guten Kontakte zur Dresdner Gesellschaft und Kunstwelt einbrachte, mehr um die technische und wirtschaftliche Seite des Unternehmens kümmerte.
Gleich einer ihrer ersten Aufträge führte die jungen Architekten nach Radebeul, wo sie 1890 den Wettbewerb für den Neubau der heutigen Lutherkirche samt Pfarrhaus und Friedhofskapelle gewannen. Anders als ihr akademischer Lehrer Karl Weißbach, der als verantwortlicher Architekt des 1884/85 erfolgten grundlegenden Umbaus der alten Kötzschenbrodaer Kirche auf Stilelemente der durch das Eisenacher Regulativ von 1861 für protestantische Kirchenbauten generell empfohlenen und deshalb allgemein gebräuchlichen Neogotik zurückgegriffen hatte, entwarfen Schilling & Graebner die Radebeuler Kirche im Stil der deutschen Neorenaissance, den sie selbst kurz vorher, beim Neubau des Rathauses von Pieschen (1890/91), im Dresdner Raum überhaupt erst eingeführt hatten und der bis dahin bei Sakralbauten noch nie zur Anwendung gekommen war. Schon vor Vollendung des Baues 1892 wurde das Projekt, das die Firma u.a. auch auf der Berliner Kunstausstellung von 1891 präsentierte, in der Fachöffentlichkeit aufmerksam verfolgt. Die gelungene Realisierung bedeutete dann einen denkbar guten Einstieg von Schilling & Graebner in eine Karriere als viel beschäftigte Kirchenbaumeister. In den folgenden 25 Jahren erhielt die Firma fast ebenso viele Aufträge für Neu- bzw. Umbauten protestantischer Gotteshäuser vor allem in Sachsen, aber auch in Nordböhmen und Westfalen. Mit diesem zentralen Aspekt des in seiner ganzen Breite kaum zu überblickenden Schaffens von Schilling & Graebner und vor allem mit ihrem kunstgeschichtlich wohl wichtigstem Kirchenbau beschäftigt sich das 2007 im Verlag der Kunst Dresden erschienene Buch von Cornelia Reimann „Die Christuskirche in Dresden Strehlen“ (173 S., 15,90 ¤).
Nach erhellenden Ausführungen über die Dresdner Architektur der Kaiserzeit und generelle Tendenzen im Kirchenbau des 19. Jahrhundert stellt die Autorin die Entwicklung der Firma Schilling & Graebner anhand ihrer wichtigsten Bauprojekte vor. Dazu gehörten im profanen Bereich neben einer Reihe bemerkenswerter Villen (so für Gerhart Hauptmann) in Dresden der für den ehemaligen Kötzschenbrodaer Apotheker Hermann Ilgen errichtete „Kaiserpalast“ (1896), die Sächsische Handelsbank (1900), das Verwaltungsgebäude der Allgemeinen Ortskrankenkasse (1912/14) und diverse genossenschaftliche Wohnanlagen sowie die aus über 30 Gebäuden bestehende Heilstätte der Sächsischen Landesversicherungsanstalt in Bad Gottleuba (1908/13), die zu den reifsten Leistungen der Firma gerechnet wird. Im sakralen Bereich sind aus der Zeit vor 1905 neben diversen Landkirchen vor allem die vom Jugendstil beeinflussten Gestaltungen des Innenraums der Dresdner Kreuzkirche (1897-1900), des Schutzvorbaus für die Goldene Pforte am Freiberger Dom (1902/03) und der Trinitatiskirche in Wiesa bei Annaberg (1903/04) hervorzuheben. Als eine Art Richtschnur ihres stilistisch denkbar vielfältigen Oevres arbeitet Reimann das Bemühen von Schillig & Graebner heraus, zwar „in Anlehnung an die alten Kunststile, aber im Sinne gegenwärtiger Zeit zu gestalten, besonders was Funktion und Konstruktion anlangte“. Spätestens mit der monumentalen Strehlener Christuskirche (1902/05), deren Baugeschichte und innovativer Gestaltung der quellensatt recherchierte Hauptteil des opulent illustrierten Buches gewidmet ist, lösten sich Schilling & Graebner ganz vom Historismus und schufen ein bis ins Detail stimmiges Gesamtkunstwerk, das von der zeitgenössischen Architekturkritik fast uni sono als „Wahrzeichen neuen Lebens“ gefeiert wurde und als erster großer moderner Kirchenbau Deutschlands in die Kunstgeschichte einging. Ein ähnlich großer Wurf gelang ihnen später noch einmal mit der 1945 zerstörten Dresdner Zionskirche (1908/12).
Dass Schilling & Graebner nicht nur als Architekten, sondern auch als Bauunternehmer in Erscheinung traten, zeigt Tobias Michael Wolf in seiner Monographie über „Die Villenkolonie Altfriedstein in Niederlößnitz/Radebeul“ (VDM Verlag Saarbrücken 2008, 168 S., 68 ¤). 1899 hatten sie das ca. 12 ha große Weinberggrundstück Altfriedstein erworben, um darauf in eigener Regie eine Landhaus- und Villensiedlung für gut- bis großbürgerliche Ansprüche zu entwickeln. Schon bei der Planung der das Gelände erschließenden neuen Straßen – Altfriedstein, Prof.-Wilhelm-Ring, obere Ludwig-Richter-Allee, Lindenau- und Mohrenstraße – machte die Firma, die hier auch als Terraingesellschaft fungierte, deutlich, dass sie sich an zeitgenössischen Vorstellungen der künstlerischen Stadtplanung orientierte. So entstand ein an die naturräumlichen Gegebenheiten angepasstes, organisch geschwungenes Wegenetz, das durch an Weinbergsterrassen erinnernde Futtermauern, Treppenanlagen und Alleebäume ein malerisches Gepräge erhielt. Der 1902 erfolgte Rückbau des barocken Herrenhauses Altfriedstein, das aus straßenbaulichen Gründen seinen Westflügel einbüßte, wurde Schilling & Graebner gelegentlich als Frevel angelastet. Aus den langwierigen Verhandlungen über den Bebauungsplan, die der Autor akribisch dokumentiert, geht allerdings hervor, dass es ihrem denkmalbewussten Beharrungsvermögen zu verdanken ist, dass von der historischen Substanz überhaupt etwas erhalten blieb.
In den folgenden anderthalb Jahrzehnten entstanden auf dem Areal 23 Wohnbauten, 15 davon nach Entwürfen von Schilling & Graebner. Damit bildet die Villenkolonie, die in der einschlägigen Forschungsliteratur bisher keine adäquate Berücksichtigung fand, den größten Komplex freistehender Häuser dieses Büros. Der Hauptteil des Buches ist der ausführlichen Beschreibung und stilistischen Analyse der einzelnen Bauten gewidmet, unter denen die als „Meyerburg“ bekannte Fabrikantenvilla Mohrenstraße 5, ihrer Lage und Größe wegen, eine Sonderstellung einnimmt. Während den Landhäusern, was die Grundrisse anlangt, eine modernen Ansprüchen gerecht werdende schlichte und funktionale Raumaufteilung gemein ist, zeigt ihre äußere Gestaltung bei durchweg hohem künstlerischem Anspruch einen erstaunlichen Variantenreichtum. Dies führt Wolf auf das Bemühen der Planer zurück, „eine über Jahre gewachsen wirkende Siedlungsanlage zu schaffen.“ Die städtebauliche Qualität, die so erreicht wurde, geht mancher Radebeuler Einheitssiedlung von heute leider ab. Kommerziell scheint das von der Gemeinde Niederlößnitz ausdrücklich begrüßte und durch eine großzügige Auslegung der geltenden Bauvorschriften geförderte Projekt „Villenkolonie Altfriedstein“ kein besonderer Erfolg gewesen zu sein. Einige der in den vom Autor ausgewerteten Werbeschriften vorgestellten Entwürfe konnten mangels Nachfrage nicht verwirklicht werden; ab 1905 wurden Teilgrundstücke dann auch ohne Architektenbindung verkauft. Die von Wolf ebenfalls vorgestellten Bauten anderer Baumeister fielen qualitativ aber zumeist deutlich hinter die von Schilling & Graebner gesetzten Maßstäbe zurück.
Das leider recht dürftig bebilderte Buch, das auch interessante Ausführungen zur Sozialstruktur der ersten Kolonistengeneration enthält, fußt, wie das über die Christuskirche, auf einer an der TU Dresden entstandenen kunstgeschichtlichen Magisterarbeit, was den mitunter recht papiernen Stil beider Arbeiten erklärt. Eine Zusammenfassung hatte Tobias Michael Wolf schon 2006 in den vom Verein für Denkmalpflege und Neues Bauen Radebeul herausgegebenen „Beiträgen zur Stadtkultur“ veröffentlicht. Diese gehaltvolle Sammlung ist ihre 19 Euro auf jeden Fall wert.
Frank Andert