Im Archiv gestöbert: Das Radebeuler Hertwig-Bünger-Heim

Die über 160 Jahre zurückreichende Geschichte des Wirkens von Frauenvereinen in der Lößnitz ist ein bisher noch kaum beackertes Feld der Heimatforschung, das ich aber gern interessierten Kolleginnen überlassen möchte. Da der internationale Kampftag des starken Geschlechts in diesem Jahr auf einen Sonntag fällt und trotzdem – wie immer – kein echter Feiertag sein wird, soll diesmal jedoch zumindest ein mittlerweile halb so altes Kapitel aus dieser Geschichte Thema sein: Das Radebeuler Hertwig-Bünger-Heim.

Hertwig-Bünger-Heim

Hertwig-Bünger-Heim, Zeichnung von 1929

In der Zeit der Weimarer Republik herrschte in vielen wirtschaftlichen Ballungszentren, so auch im Raum Dresden, drückende Wohnungsnot, die Staat und Kommunen dazu zwang, Instrumente der Wohnraumbewirtschaftung einzuführen. Gleichzeitig führten Elitenwechsel, Nachkriegskrise und Hyperinflation zur Verarmung von Teilen der alten Mittel- und Oberschicht. Hatte die Standesbezeichnung »Rentier«, die sich gerade in den Vorkriegsadressbüchern der Lößnitzortschaften häufig findet, ursprünglich einen vornehmen Klang, konnte man sie nun oft getrost durch »Sozialhilfeempfänger« ersetzen. Die alte Weisheit von Heinrich Zille, »man kann einen Menschen mit einer Axt erschlagen, aber man kann ihn auch mit einer Wohnung erschlagen«, erhielt dadurch eine Zusatzbedeutung. Denn so manche Kommerzienrats- oder »Rentiers«-Witwe saß nun in einer zu teuren Wohnung fest, für die es keine erschwingliche Alternative gab.

Angesichts dieser Situation rief die Vorsitzende des Stadtbundes Dresdner Frauenvereine, Dr. phil. Doris Hertwig-Bünger, 1926 die »Stiftung Frauenwohnungshilfe« ins Leben. Ihr Zweck war die Bekämpfung sowohl der Wohnungsnot wie der durch die beschriebene Entwicklung verursachten Altersarmut von Frauen des Mittelstandes. Die Stifungsaktivitäten konzentrierten sich auf die Schaffung bezahlbarer Heime für ältere Menschen, damit deren Wohnungen dem angespannten Wohnungsmarkt wieder zur Verfügung gestellt werden könnten. Die Stiftung hatte ihren Sitz in Dresden, Ableger entstanden aber auch außerhalb, darunter die Ortsgruppe Radebeul-Oberlößnitz, der auch die Vereinsgründerin angehörte, die von 1926 bis 1932 in der Dienstvilla ihres Mannes in Oberlößnitz, Hoflößnitzstraße 72, wohnte.

Doris Hertwig-Bünger (1882-1968), promovierte Anglistin und von Beruf Lehrerin, war eine der wenigen Frauen der Zeit, die sich tatkräftig und erfolgreich in das von Männern dominierte politische Geschäft einmischten. Neben ihren umfangreichen Vereinsaktivitäten gehörte sie ab 1920 als Abgeordnete der nationalliberalen Deutschen Volkspartei dem Sächsischen Landtag an, wo sie auch ihren späteren Ehemann, den Juristen und DVP-Fraktionskollegen Dr. Wilhelm Bünger (1870-1937), kennenlernte. Im Landtag trat sie bis 1926 als streitbare Sozial- und Bildungspolitikerin auf und war unter den wenigen weiblichen Abgeordneten diejenige, die mit Abstand am häufigsten am Rednerpult stand. Während ihr Mann in Sachsen Karriere machte – seit 1920 stellvertretender Landtagspräsident, wurde Bünger 1924 Justiz-, 1929 Bildungsminister und bekleidete von Juni 1929 bis Februar 1930 als erster bürgerlicher Politiker nach 1918 das Amt des sächsischen Ministerpräsidenten – zog Doris Hertwig-Bünger 1928 für eine Wahlperiode in den Reichstag ein, den sie zehn Jahre früher (als Frau) noch nicht einmal hätte mitwählen dürfen.

In der Sitzung vom 30. April 1929 ergriff sie dort die Gelegenheit, ihre Lieblingsidee zur Lösung der Wohnungsfrage vorzustellen. Im Reichsgebiet gab es damals weit über eine halbe Million Wohnungen, die von allein stehenden Personen bewohnt wurden. »Wenn es möglich wäre, diese Einzelpersonen in Kleinstwohnungen oder Altersheimen unterzubringen – natürlich kann das nicht zwangsweise geschehen, sondern nur, soweit diese Personen es selbst wünschen – würden viele Altwohnungen für Familien frei werden. Ich weiß, dass viele solche Einzelpersonen, besonders alte Frauen, sehr froh wären, wenn sie die Mühe und die Kosten für die Instandhaltung ihrer großen Wohnungen nicht mehr hätten und in einem neuzeitlich eingerichteten Altersheim Unterkunft finden könnten, wo sie nach ihren Bedürfnissen leben können und nicht allzu sehr in ihrer persönlichen Freiheit beschränkt werden.«

Aus der DVP-Fraktion kam darauf »Bravo!«-Rufe, sonst wurde der Vorschlag nicht weiter diskutiert. Doch der Verein der Rednerin hatte in dieser Richtung schon Tatsachen geschaffen. Der erste Altersheimneubau der Stiftung Frauenwohnungshilfe in Dresden, Gabelsbergerstraße 27, war bereits bezogen, und für das zweite, Radebeuler Haus hatten die Bauvorbereitungen bereits begonnen. Dank großzügiger Unterstützung und günstiger Darlehen seitens des Landes, der Stadt Radebeul und der örtlichen Sparkasse – eine »Frau Ministerpräsident« kann dringlicher bitten als Lieschen Müller, man erinnere sich an Beispiele aus der jüngeren sächsischen Geschichte – konnte das Vorhaben noch 1929 abgeschlossen werden.

Das idyllisch zwischen einem Villenviertel und der Jungen Heide, in unmittelbarer Nähe zum damals in voller Pracht stehenden »König-Friedrich-August-« bzw. Waldpark Radebeul gelegene Gebäude wurde nach Plänen des Oberlößnitzer Architekten Dr.-Ing. Alfred Tischer durch Baumeister Alwin Höhne (1878-1940) ausgeführt, der 1911 das für die Lößnitz so bedeutende Baugeschäft »Gebr. Ziller Nachf.« übernommen hatte. Der langgestreckte zweigeschossige Bau im Heimatstil mit Souterrain und ausgebauter Mansarde beherbergte zwanzig altersgerechte Ein- und Zweiraumwohnungen. Seinen gestalterischen Reiz erhielt der symmetrische Baukörper durch die ansprechende Gliederung der nach Süden ausgerichteten Hauptwohnseite mit ihren zwei kurzen Seitenflügeln und den geschickt verteilten Loggien. Das Haus, dessen Lage noch zur Eröffnung mit »an der Moltkestraße« (heute Einsteinstr.) angegeben wurde – die eigentliche Adresse lautete, nach dem Haupteingang, damals wie heute Lessingstraße 1 –, war von einem Garten umgeben, in dem ein noch erhaltener schmucker Eckpavillon als Ruheplatz und Ausguck diente.

Die innere Ausstattung dürfte der der anderen Heime der Stiftung entsprochen haben, über die es in einem Werbefaltblatt zu Beginn der 30er Jahre heißt: »Jede Wohnung hat einen Kochraum mit Waschbecken, Spülbecken, Wasserleitung mit Ausguss und einen zweiflammigen Gaskocher, einen kleinen Vorraum, mehrere eingebaute Schränke, einen verschließbaren Abstellraum, einen entlüftbaren Vorratsschrank auf dem Gang. Zur gemeinsamen Benutzung steht ein Schrankraum zur Verfügung, ein Gastzimmer und ein Esszimmer, in dem die Mittagsmahlzeit eingenommen wird.« Dass man auf eine gesunde Lage und, bei aller räumlichen Beschränkung, auch auf ein gewisses Maß an Komfort, etwa eine Zentralheizung, Wert legte, hatte mit dem Grundgedanken der Stiftung zu tun, dass ihre Heime weder an Klöster noch Kasernen erinnern, sondern eher Pensionscharakter haben sollten. Mieterinnen waren für das Radebeuler Heim schnell gefunden, und dass diese sich der Stiftung dankbar verbunden fühlten, kommt schon darin zum Ausdruck, dass sie im August 1930 einmütig beschlossen, dem Haus den Namen ihrer Gründerin zu verleihen.

Keine fünfzehn Jahre später war es mit der beschaulichen Oase im Grünen erst einmal vorbei, und der Grund war nicht, dass das Hertwig-Bünger-Heim wegen der niedrigen Mieten nie kostendeckend gearbeitet hatte, von einer Abtragung der Verbindlichkeiten ganz zu schweigen. 1945 waren zunächst Scharen von Ausgebombten und Flüchtlingen unterzubringen. Nach der Gründung der DDR wurde die betreibende Stiftung 1950 endgültig aufgehoben und ihr Vermögen verstaatlicht. Aus der Pension entstand nun ein städtisches Altersheim mit einer deutlich erhöhten Kapazität von 47 Betreuungsplätzen, das 1951 den Namen der 1944 im KZ Ravensbrück ermordeten Antifaschistin Käthe Niederkirchner erhielt. Mehrfach geplante Erweiterungen kamen nicht zustande. Nach der Wende ging das Heim 1993 in die Trägerschaft des Diakonischen Werkes über, 1999 wurde es, mittlerweile stark sanierungsbedürftig, ganz geschlossen. Nach Jahren im Dornröschenschlaf erfolgte 2005/06 die Sanierung durch einen privaten Investor. Aus ursprünglich 20 Kleinst- wurden zehn normale Wohnungen, und da der Denkmalschutz ein Wort mitzureden hatte, präsentiert sich das nur behutsam veränderte äußere Erscheinungsbild heute mindestens genau so schön wie bei der Eröffnung vor knapp 80 Jahren.

Hertwig-Bünger-Heim nach der Sanierung 2006

Hertwig-Bünger-Heim nach der Sanierung 2006

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