Nachspiel 75

oder Rückschau auf ein ungewöhnliches Langzeitexperiment der Radebeuler (Basis)Kultur

Plötzlich stand sie im Raum, die Idee, und verkündete mit zarter Stimme: »Wir Radebeuler feiern gemeinsam ein Fest, denn im Jahr 2010 wird unsere Stadt 75 Jahre alt.« So ein Quatsch, meinten einige, die 75 ist doch keine Zahl zum Feiern. Und wer will schon so genau wissen, was da los war im Jahr 1935?! Andere wiederum vermissten die nötige Würde. Ihnen schien alles zu klein in klein, zu unspektakulär, zu spontan und zu ungewiss.

Doch einmal in die Welt gesetzt, bahnte sich die Idee ihren Weg, stieß auf die Humorvollen, Einfallsreichen und Aktiven in dieser ihrer Heimatstadt.

In Windeseile wurde ein Festprogramm zusammengestellt, das man schließlich als gedruckte Broschüre in Händen halten konnte. Im Verlauf des Jahres fanden noch weitere Mitbürger Gefallen an der Geburtstagsfeier und beschenkten die Lößnitzstadt auf verschiedenartige Weise. Eine Spende von 25.000 Euro war für die Gestaltung einer Parkanlage bestimmt, die Chronik des Radebeuler Männerchores, dessen Gründung bis ins Jahr 1844 zurückreicht, wurde fertig gestellt und feierlich übergeben, eine Rechercheaktion lief an über Radebeuler Ehrenbürger, Bilder-Schenkungen gingen samt Liebeserklärung an die Kunstsammlung der Stadt, 75 Bäume wurden gepflanzt usw. usw. …

Gleich zur Eröffnung des neuen Museumsdepots am 8. Januar 2010 wurden die Gänge gestürmt und die eigens fürs Stadtjubiläum konzipierte Ausstellung »100 Jahre Vor(Stadt)Geschichte – Die Lößnitz 1835-1935« stieß auf lebhaftes Interesse. Exkursionen, Führungen, Wettbewerbe, Preisverleihungen sowie Vorträge über Radebeuler Persönlichkeiten und stadtgeschichtliche Zusammenhänge fanden statt. Über zwanzig Ausstellungen gab es zu sehen. Ein Untoter belebte den künftigen Kulturbahnhof. Bau-Damen und -Herren schufen in einem Vorgarten das perfekte Radebeul. Aus den Szenen einer Zwangshochzeit entstand ein Theaterstück mit Potential zum Kultstatus. Über 200 Sänger traten zur Nacht der Chöre auf. Altes und neues Radebeuler Liedgut wurde beim Waldparksingen zu Gehör gebracht. Der Autorenkreis las Kurzgeschichten über das Leben in der Lößnitzstadt und im Kurzfilm »Ein umstrittener Name« kamen Vertreter aller Ursprungsgemeinden zu Wort. Heimatgeschichte konnte man in laufenden und stehenden Bildern erleben.

Dass Kleines und Großes eng miteinander verwoben ist, verdeutlichen die Aufzeichnungen der »Radebeuler Alltagsschreiber«. Debattiert wurde auch über Zwangsarbeit in den Weinbergen und über Stolpersteine in Radebeul und anderswo. Zu sehen waren Architekturentwürfe und Modelle, die niemals gebaut worden sind. Jubiläum reihte sich an Jubiläum, vom 10- bis zum 120-jährigen. Feste wurden gefeiert in Wahnsdorf, Naundorf, Lindenau, Kötzschenbroda und Radebeul, bei strahlendem Sonnenschein und auch bei Dauerregen. Ein festlicher Hauch streifte mehr oder weniger alle zehn Ursprungsgemeinden.

Speziell für Trophäenjäger wurde ein Jubiläumsposter gestaltet, auf dem erstmals Herr Radebeul und Frau Kötzschenbroda mit ihrer zahlreichen (Adoptiv-)Kinderschar zu sehen sind. Gut mit Radebeul meinte es auch ein Lößnitzzwerg. Aus seinem Füllhorn ließ er Euros regnen. Doch Vorsicht: Alles nur Kunst! Aber was soll’s, Geld alleine macht die Bürger einer Stadt nicht glücklich.

»Radebeul, du wandelbare Schöne, dein Geheimnis zu ergründen, wem wird das je gelingen?« Maler, Dichter, Fotografen, Komponisten, Filmemacher – sie alle haben versucht, den eigenwilligen Reiz der Lößnitzstadt zu ergründen und für die Nachwelt festzuhalten. Archive, Bibliotheken, Museen, Sammlungen lassen uns fündig werden, und aus jeder Antwort erwachsen neue Fragen.

Doch gelohnt hat es sich auf jeden Fall, das Nachdenken über Radebeul, beginnend bei den Umständen, unter denen sich dieses Konglomerat aus ehemals zehn Ursprungsgemeinden in seine heutige Begrenzung fügte bis ins krisengeschüttelte Jahr 2010 mit Firmenpleiten, Armut, Wetterkapriolen und den arg bedrängten Landesbühnen. Gelohnt hat sich das Festjahr auch, weil sich Menschen begegneten und miteinander ins Gespräch kamen, weil neue Kontakte geknüpft wurden, von denen einige sicher auch bestehen bleiben werden.

Eine Würdigung erfuhr das Engagement aller beteiligten Vereine, Initiativgruppen, Künstler, Einrichtungen und Bürger durch den Radebeuler Oberbürgermeister Bert Wendsche im Rahmen einer kleinen Festveranstaltung am 23. Januar 2011 in der Stadtgalerie. Für hervorhebenswerte Beiträge, die aus Anlass des Jubiläumsjahres entstanden sind, erfolgte durch den Leiter des Amtes für Kultur und Tourismus erstmalig die Verleihung des »Goldenen RadeBeilchens« an Steffen Große, Monika Hornuf und Klaus Hübner.

»Nachspiel 75« zeigt den ungewöhnlichen Umgang mit einem Stadtjubiläum, das ein Nachspiel haben wird, weil es uns gezeigt hat, was erreicht werden kann, wenn jeder seine Stärken zum Wohle der Gemeinschaft einbringt, und weil es die Sinne schärfte für das Woher und Wohin. Wie hieß es doch im Vorwort zum Festprogramm: »Zukunft braucht Herkunft, aber auch Inspiration, Phantasie und eine Vision«.

Karin Gerhardt

[V&R 2/2011, S. 2-4]

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