Heiterer Aufmarsch irrer Typen

»Arsen und Spitzenhäubchen« an den Landesbühnen

Etwa drei Jahrzehnte als Konsument von kulturellen Entäußerungen der unterschiedlichsten Art zum Thema »Mord« haben mich dazu verführt, inzwischen drei Klischees zu mögen, weil sie so liebenswert charmant wie gnadenlos naiv sind. Erstens: Der Mörder ist immer der Gärtner (lies: der am wenigsten Verdächtige). Zweitens: Über Morde spricht man nicht, Morde begeht man diskret. Drittens: Wer schön morden will, muss intelligent sein. Zugegeben, diese Mordromantik verweist auf jene Ecke des literarischen Kriminalfriedhofs, wo Agatha Christie friedlich eingerahmt von Edgar Wallace und Arthur Conan Doyle ruht, zwei Messerlängen entfernt dann Edgar Allen Poe und G. K. Chesterton. Aber warum nicht diese Klassiker der Kriminalgeschichten bemühen, die Meister der perfekten Plots, wenn über ein Theaterstück zu schreiben ist, das selbst schon klassisch zu nennen ist, weil es einerseits Klischees zu brechen scheint (Über Morde spricht man eben doch, noch dazu ohne schlechtes Gewissen!), andererseits aber so hemmungslos im Klischeetopf wühlt (Natürlich ist der Mörder der Gärtner!), dass es weder von musikalisch-literarischen Vorbildern noch den eigenen Alltagserfahrungen jemals aufgefangen werden könnte. Der Plot von Arsen und Spitzenhäubchen ist zu schrecklich, um je wahr sein zu dürfen, zu komisch, um je darüber regungslos hinweggehen zu können, zu absurd, um nicht immer wieder als Kassenschlager inszeniert werden zu müssen. Wer will, möge die Handlung im Lexikon oder Internet nachlesen.

Eine sehr gefällig gebaute und genretypische Devotionalien aufgreifende Bühne (Ausstattung: Alexander Martynow) schafft in der von Arne Retzlaff verantworteten Inszenierung alle Voraussetzungen für einen heiteren Aufmarsch irrer Typen. Ein Telefon für die allfälligen Anrufe bei der Polizei und der Presse; große Fenster mit Blick auf einen Friedhof; weit schwingende Vorhänge mit Kordeln, die zum Erwürgen einladen; eine nach oben führende Treppe, von der sich prima die ganze Bühne überblicken, von der sich herunterbrüllen und herunterrennen lässt; eine seitwärts nach unten führende unheimliche Kellerstiege; ein leicht umkippender Schaukelstuhl; eine Fensterbank, die viel Stauraum für erkaltete Körper bietet; ein Bild, das immer im rechten Moment mit Gepolter von der Aufhängung herunter und damit zu Boden fällt. Bespielt wird diese Bühne von einem menschlichen Panoptikum, das in seiner Gesamtheit ein Jahrhundert nordamerikanischer Kultur- und Sozialgeschichte umspannen und damit eine Brücke von der Entstehungszeit (Joseph Kesselring schrieb das Stück 1939) bis heute schlagen möchte. Streckenweise gelingt das sehr überzeugend, so dass die Zuschauer am Ende der Aufführung mit rhythmischem Beifall für den Theaterabend danken.

Der Applaus gilt vor allem dem irren Typ 1, der durch die etwa 60-jährigen Jungfern Abby (Anke Teickner) und Martha Brewster (Julia Vincze) verkörpert wird. Diese brechen allerdings nach meinem Geschmack aus ihrer durch den Autor des Stückes verordneten unbedingten Harmlosigkeit und Tugendhaftigkeit angelsächsischer Prägung zu sehr aus, wodurch sie ihrer Rolle einen Teil des absurden Charmes nehmen. So sehr es z.B. passt, dass sie alle Gäste mit Tee und Gebäck verwöhnen möchten und dieses auch auf Silbergeschirr servieren, so sehr stimmig etwa ihre ehrliche Besorgnis um die Qualität der Hühnerbrühe und deren heilsame Wirkung bei der kranken Nachbarin ist, so wenig rollenkonform sind der Abklatschreigen, der die beiden um gefühlte 30 Jahre jünger machen soll, und die von aufgeregten Trippelschritten begleiteten Stimmeskapaden, die mehr Aufregung verursachen, als der erforderlichen Bühnenlautstärke dienlich ist. Dennoch ist den beiden Protagonistinnen zu bescheinigen, dass sie mit ihrer plüschigen Nächstenliebe, unter deren Deckmantel sie 12 einsame Herren mittels hausgemachten Holunderweins plus einer Prise Arsen mit bester Absicht ins Jenseits befördern, Sympathieträger im Wettstreit um die Gunst des Publikums sind. Diese verdienen sich unzweifelhaft auch die Typen 2 und 3, Jürgen Stegmann und Holger Uwe Thews als Teddy und Mortimer Brewster, die als die »guten« Neffen der beiden Damen ganz unterschiedliche Positionen auf der Skala der Verrücktheit einnehmen. Der eine (Teddy) ist es wirklich, denn er hält sich für Präsident Teddy Roosevelt, der andere (Mortimer) wird es fast, weil er wie der frühe Woody Allen sich den Fährnissen des New Yorker Lebens hilflos ausgesetzt sieht. Diese bestehen für Mortimer konkret darin, dass er sich im Zustand der seelischen Verwirrtheit und im Wissen um die Zuneigung einer Frau (Sandra Maria Huimann) von einem Moment zum nächsten der Tatsache klar werden muss, nicht nur zwei mordende Tanten zu haben, sondern auch von seinem weltweit gesuchten Mords-Bruder Jonathan (Matthias Henkel) als nächstes und damit 13. Opfer auserkoren zu sein. Jonathan ist Typ 4 und bedient als Boris-Karloff-Wiedergänger das Schaurigschreckliche, ohne das eine richtige Mordsgeschichte ja nicht auskommt. Typ 5 ist Dr. Einstein (Mario Grünewald), der sehr leicht als skrupelloser Gewinnler zu erkennen ist und dessen Verhältnis zu Jonathan etwa dem von Promoter Don King zu seinem schlagenden Brutalo-Boxer Mike Tyson in den 1990er Jahren entspricht. René Geisler darf Typ 6 sein und, herausgeputzt als Eddy Murphy, den supercoolen Cop O’Hara geben, der einem billigen Hollywoodstreifen der 1980er Jahre entsprungen zu sein scheint. Ob diese Stilisierung nötig war, ist ebenso fraglich wie jene von Mr. Witherspoon (Jost Ingolf Kittel) als buddhistischer Mönch, der so richtig weder in die Zeit noch in den Raum passt. Michael Heuser, Franziska Hoffmann und Marc Schützenhofer in kleineren Rollen würzen das Geschehen mit Normalität, was ihm nichts von seinem schwarzen Humor und seiner absurden Weltverfremdung nimmt, sondern im Gegenteil das alles nur noch stärker hervorscheinen lässt.

Es ist zu erwarten, dass diese Inszenierung den Landesbühnen dazu verhilft, ihre Zuschauerquote im Jahr 2011 auf hohem Niveau zu halten. Und auch das wäre ein legitimes Kriterium für die Platzierung des Stückes im Spielplan in diesen nicht einfachen Zeiten.

Bertram Kazmirowski

[V&R 3/2011, S. 15-17]

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