Premiere von »Nathan der Weise«
Radebeul ist nicht gerade als ein Ort bekannt, in dem sich weise Weltläufigkeit und religiöse Toleranz im Alltag zu bewähren bräuchten. Dazu sind die Menschen, die in Radebeul wohnen – bei aller individuellen Verschiedenheit – viel zu homogen. Zwar gibt es einige christliche Gemeinden und Gemeinschaften, die im Ganzen wohl eine respektable vierstellige Mitgliederzahl auf sich vereinen. Aber anders als in vielen (vor allem westdeutschen) Großstädten fehlen in Radebeul sichtbare Zeichen religiösen Lebens anderer Bekenntnisse, was nicht nur an der Größe unserer Stadt liegt. Denn die meisten Radebeuler werden beim Zensus angegeben haben, dass sie konfessionslos sind. Vor diesem Hintergrund ist die jüngste und mit ungewöhnlichen Partnern initiierte Schauspielproduktion der Landesbühnen ein mutiger Schritt aus der Enge des Elbtals: Lessings »Nathan der Weise« wird als ein Beitrag zum Evangelischen Kirchentag (Aufführung am 2. Juni um 20 Uhr in der Himmelfahrtskirche Dresden-Leuben) auf ein gesamtdeutsches Publikum treffen und im September anlässlich der Feierlichkeiten zum zehnjährigen Bestehen der Neuen Synagoge Dresden auch Mitgliedern der Jüdischen Gemeinde zu Dresden in deren Räumlichkeiten zugänglich gemacht. Konsequenterweise hatte sich das Theater frühzeitig entschieden, auch die Radebeuler Premiere (Inszenierung: Arne Retzlaff) in einem sakralen Raum (Lutherkirche) zur Aufführung zu bringen und mit einer weiteren Tradition zu brechen, indem die Premiere an einem Freitag und nicht wie sonst an einem Sonnabend stattfand.
Lessings bekanntes und manchem durch Schullektüre verleidetes Stück in einer Kirche aufzuführen ist keine neue Idee, sondern wurde vor Jahren beispielsweise in Koserow auf Usedom (mit Jürgen Zartmann als Nathan) sehr erfolgreich über mehrere Sommer hinweg praktiziert. Allerdings erfordert die Entscheidung, das Stück nicht auf einer theatergerechten Bühne, sondern in einem auch für gottesdienstliche Zwecke genutzten Altarraum aufzuführen, einen grundsätzlichen Verzicht auf Regietheaterkonzepte und Entertainment à la Klassik light. Vielmehr als sonst muss sich nämlich die Aufmerksamkeit des Zuschauers auf das gesprochene Wort und auch darauf konzentrieren, ob und wie die Akteure auf der kleinen spartanischen Bühne (Ausstattung: Stefan Wiel) körpersprachliche Signale senden und miteinander ohne die Hilfe von Requisiten umgehen können. Wenn man sich in dieser Weise auf die Darbietung einlässt, dann kann man spüren, dass der Radebeuler »Nathan« ein Eigenleben als Hörspiel zu entwickeln vermag, denn das Erlebnis wird nicht kleiner, wenn man mit geschlossenen Augen nur zuhört und sich ablenkungsfrei der Qualität des berühmten Textes hingibt. Retzlaff verdichtet das Schauspiel auf zwei Stunden ohne Pause und kann es dadurch auf einen zutiefst menschlichen Grundkonflikt zuspitzen, der überraschend viel Spannung hervorbringt. Liebendes Begehren (eine Spur zu aggressiv und wild: Marc Schützenhofer als junger Tempelherr; Franziska Hoffmann als Recha) droht erst an religiösen Mauern
zu scheitern, schließlich aber wird durch wundersam zu nennende Fügungen familiäre Eintracht hergestellt und erweist sich Nathan (Matthias Henkel stattet seine Figur mit großer Herzenswärme und sprachlicher Überzeugungskraft aus) als eine gemeinsame Vaterfigur für Recha, Sitta (Sandra Maria Huimann) und den Tempelherrn. Befragte man Lessings Text auf die Plausibilität der Figurenkonstellation, dann stünde es um seine Be-
deutung vermutlich weit weniger gut. Zu unglaublich sind die Biografien von Figuren wie der Daja (Anke Teickner liegt der Kirchenraum weniger, ihre oftmals in starken Amplituden ausschlagende Stimme trägt nicht gut) und des Klosterbruders (Olaf Hörbe entledigt sich seiner Aufgabe souverän). Aber weil es Lessing nicht um Plausibilität, sondern um »Aufklärung« eines anscheinend unlösbaren Falles ging (Welche Religion ist die wahre?), bedurfte es eines Szenarios, welches dieses Problem auf eine menschliche und damit fassbare Ebene bringt. Die beiden hohen Vertreter des Christentums (Tom Hantschel ist für meinen Geschmack ein wenig zuviel Ideologe und zu wenig Geistlicher) bzw. des Islam (Michael Heuser als Saladin) sind im unterschiedlichen Maße sympathische Figuren, verkörpern aber das grundsätzliche Dilemma im Dialog der Religionen: An der Basis ist die gegenseitige Verständigung oft schon viel weiter als es die hohen Repräsentanten wahr haben wollen.
Der Charakter der Inszenierung als Hörspiel wird noch dadurch verstärkt, weil drei Musiker (André Obermüller ist Christ, Gennadiy Nepomnyashchiy Jude und Amir Kalhor Moslem) auf einem Podest hinter der Bühne auf je kulturspezifischen Instrumenten die einzelnen Szenen in Intermezzi illustrieren. Sie tun dies am Anfang zaghaft, am Ende kraftvoller, was sinnreich das Näherrücken und Ineinanderaufgehen der Religionen im Stück illustriert. Dagegen verblassen die Bildeinblendungen von Gesichtern und Landschaften auf einer Leinwand hinter den Musikern und senden missverständliche Botschaften, weshalb auch hier das visuelle Erleben hinter dem akustischen zurückbleibt. Ob die Inszenierung in dieser Form zu einem Publikumserfolg wird, bleibt abzuwarten. Dass sie Radebeul zur Ehre gereicht, daran dürfte allerdings kein Zweifel bestehen. Diese Einschätzung teilte wohl auch das Publikum am Premierenabend, welches anerkennenden Beifall spendete, der angesichts des Ortes etwas weniger euphorisch ausfiel als im Stammhaus zu erwarten gewesen wäre.