Späte Weisheit

Utopien des Friedens bei Karl May und Lev Tolstoj

von Dr. Claudia Woldt

Vor drei Monaten war das Karl-May-Fest Anlass, eine Publikation über Slawisches in seinen Romanen vorzustellen. Diesmal nun soll es um einen anderen Aspekt seines Schaffens gehen, der indirekt wieder mit den Slawen zusammenhängt, genauer gesagt mit einem Slawen, dessen 100. Todestag im vergangenen Jahr begangen wurde: Lev Tolstoj (1828-1910). Man wird sich noch erinnern an Neuübersetzungen seiner Werke und zahlreiche Publikationen biographischer oder literaturwissenschaftlicher Art, die aus diesem Anlass erschienen sind. Eine dieser Publikationen, die allerdings erst seit Kurzem vorliegt, soll hier vorgestellt werden, schlägt sie doch in gewisser Weise die Brücke vom letztjährigen Jubiläum zum im kommenden Jahr anstehenden 100. Todestag von Karl May1. Holger Kuße, Inhaber des Lehrstuhls für slawische Sprachwissenschaft an der TU Dresden und Kenner des Werkes sowohl von Karl May als auch von Lev Tolstoj, weist darin auf einen interessanten Aspekt im Schaffen beider Schriftsteller hin: auf ihre Wandlung zu „Friedens­denkern“, besonders in der Spätphase ihres Lebens. Sowohl May als auch Tolstoj werden nach einschneidenden Erlebnissen in ihrem Leben zu religiösen, nach Formeln der Weisheit suchenden Schrifstellern. Tolstoj schreibt eine Beichte (1879-1882), in der er sein bisheriges Leben als dekadent und von Irrtümern geleitet bereut; May findet spätestens nach seiner Orientreise (1899-1900) zu einer religiös-symbolistischen Erzählweise, die in einem Gegensatz zu seiner früheren spätromantischen Art des Erzählens steht. Geradezu ins Auge fällt, dass beide Spruchsammlungen herausgeben (Tolstoj: Für jeden Tag (1906-1910), Wege des Lebens (1910); May: Himmelsgedanken (1901)), die im Falle von Tolstoj weltweite Verbreitung fanden und in Russland selbst eine treue Anhängerschar, die Tolstojaner, hervorbrachte.

Was heißt nun „religiös“ oder auch „weisheitlich“ in diesem Zusammenhang? Sind nicht beide Attribute auf Spätwerke auch vieler anderer Autoren anwendbar? Sie sind es, zweifellos. Was aber die hier behandelten Autoren betrifft, so steht ein Aspekt im Mittelpunkt, der die beiden tatsächlich in erstaunliche Nähe rückt, und zwar der Gedanke des Friedens, der Versöh­nung und Nächstenliebe. Bei Karl May findet man ihn im ‚Reich der Edelmenschen’, bei Tolstoj im ‚Reich Gottes’. Beide sind davon überzeugt, dass ein gewaltfreies Zusammen­leben aller möglich sei. Karl May entwirft in Ardistan und Dschinnistan (1907-1909) eine utopische Gesellschaft, deren oberstes Gesetz lautet: „Du sollst der Engel deines Nächsten sein, damit du dir nicht selbst zum Teufel werdest!“. Und in einem Brief beschreibt Tolstoj einen erleuchteten Tempel: „Alle müssen nur auf das Licht in der Mitte zugehen, um sich zu vereinen und die Menschheit voranzubringen“ (1896). Wie Kuße zeigt, enden hier aber schon fast die Gemeinsamkeiten. Der einen übergeordneten Idee des Guten werden jeweils unter­schied­liche Wege zu seiner Verwirklichung zugeordnet. Der erste Unterschied lässt sich mit „Pazifismus versus Pazifizierung“ beschreiben. Lev Tolstoj war radikaler Pazifist. Nur durch das Gute könne das Böse besiegt werden. Davon war er fest überzeugt, und es führte ihn so weit, jegliche Form von Staat abzulehnen – schließlich könne alles Böse vom Menschen allein, auch ohne Zutun von staatlichen Instanzen, einzig und allein durch den Willen zum Guten überwunden werden. Karl May dagegen geht es um die Verhältnismäßigkeit der Mittel, wobei physische Gewalt im Laufe seines Schaffens immer seltener gutgeheißen wird. (Old Shatterhand schießt, wenn er es denn muss, bevorzugt auf Knie, Oberschenkel und Pferde!) Er zieht Konfliktlösungen vor, die durch die Kenntnis der jeweils anderen Kultur ermöglicht werden. Seine Helden lernen Sprachen und fremde Bräuche und werden zuweilen gar nicht als Fremde erkannt, womit sich das Problem der Gewaltanwendung von selbst löst. So spricht Winnetou fließend Englisch und Old Shatterhand berichtet von einer gleich dreisprachigen Ausbildung: „Nscho-tschi lehrte mich den Dialekt der Mescaleros, Intschu tschuna denjeni­gen der Llaneros und Winnetou den der Navajos“.

Ein zweiter Unterschied wird erkennbar, wenn man sich vergegenwärtigt, welche Vorstellungen die beiden Schriftsteller vom Bösen haben. Bei Karl May ist alles Fremde anfänglich auch das Böse, besonders in seinen frühen Kolportageromanen. Diese Vorstellung weicht der Er­kenntnis, dass das Böse nicht aus kultureller, sondern aus seelischer Fremdheit erwächst. Tangua und Santer im Winnetouzyklus sind eher krank als böse und Old Wabble in Old Shure­hand wird vom Bösen wie von einem Virus befallen. Daraus folgt für ihn, dass man das Böse auch heilen kann. Für Tolstoj dagegen ist das Böse die natürliche Folge von Egoismus, Mate­ria­lismus und Dekadenz, d.h. es ist eher der Normalzustand, der überwunden werden muss.

Und ein dritter Unterschied schließlich besteht in der „Stoßrichtung“ der Utopien des Guten, die von den beiden entworfen werden. Tolstoj ist nicht so sehr am kulturell Fremden interessiert, ihn beschäftigt vielmehr der Unterschied zwischen arm und reich. Er idealisiert das einfache bäuerliche Leben, ja er beginnt selbst ein solches Leben, um zu zeigen, in welcher sozialen Form sich das Himmelsreich auf Erden realisieren ließe. So wird beispielsweise Fürst Nechljudow in der Auferstehung (1889-1899) geläutert, als er auf Besitz und Wohlstand ver­zichtet. Das liegt Karl May ganz und gar fern. Er gehört zu den sozialen Aufsteigern, die sich ihre gesellschaftliche Position hart erkämpft haben und an ihr hängen. Das Geld, das er mit seinen Büchern verdient, ist ihm wichtig, während Tolstoj sogar seine Ehe daran setzt, es möglichst vollständig loszuwerden.

Trotz dieser Unterschiede betont Kuße das eine große Gemeinsame: den Glauben an das Reich des Guten und die Überzeugung, dass es nur durch das Tun des einzelnen verwirklicht werden kann. Tolstoj formuliert es in Der Weg des Lebens so: „Verbessern kann der Mensch nur das, was in seiner Macht steht – sich selbst“. Und Karl May schreibt in Himmelsgedanken: „Man kann die Seele nicht in das Gewand der Tugend kleiden. Die Tugend ist einfach der Gesundheitszustand der Seele“.

Auch wenn dieser Friedensoptimismus in den Gewaltorgien des Ersten und Zweiten Weltkriegs unterging, lässt sich doch fragen, ob Utopien dieser Art tatsächlich veraltet oder gar weltfremd sind. „Dass kulturelles und religiöses Lernen die Voraussetzung des Friedens sind, wird zwar selten bestritten, aber auch selten beachtet“, so Kuße abschließend. „Oder können wir uns, voll der medialen Schreckensbilder, vorstellen, von … der afghanischen Kultur zu lernen? Uns kommt in der Regel gar nicht der Gedanke daran. Hier können uns Lev Tolstoj und besonders Karl May auch nach 100 Jahren noch auf die Sprünge helfen.“

Dem ist nichts hinzuzufügen – bis auf die Empfehlung, den gesamten Beitrag zu lesen. Interessierten sei zudem das Buch desselben Autors über Weisheit bei Lev Tolstoj ans Herz gelegt.

  1. Kuße, Holger: Sehnsucht nach Frieden: Lev Tolstoj und Karl May. In: Der Beobachter an der Elbe, Nr. 16, Heft 6/2011, hrsg. vom Karl-May-Museum Radebeul, S. 12-18. Kuße, Holger: Tolstoj und die Sprache der Weisheit. Göttingen 2010.
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Ein Kommentar

  1. Frank
    Veröffentlicht am Do, 27. Okt. 2011 um 13:47 | Permanenter Link

    Brilliant. Weiter so!!

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