Ein Platz, gern dort gewesen zu sein

„Als das Kind noch reichlich klein war, saß es oft im riesigen Armlehnstuhl der Großmutter, blätterte versunken im ehrwürdigen Weltatlas, nahm das alte, von ferner Nässe verzogene Holzlineal, legte es mal so und mal anders über die Seiten und verspann damit die farbengedruckte Erde in seine Gedanken.“

In diesen Zeilen wird es um Wein gehen, Elbwein, aber weder aus Radebeul, Meißen noch Diesbar. Eine weinkundliche Ausführung? Nein, nein, dafür hat dieses kleinfeine Heft weitaus kompetentere Autoren. Ich möchte den Besuch einer Weinkulturlandschaft anregen, den Wassern der Elbe ein paar Dutzend Kilometer stromauf ins Böhmische folgend. Aus pragmatischen Gründen (es soll ja auch Wein getrunken werden…) wähle ich die Bahn und außerdem einen Wochentag außer montags, den Öffnungszeiten von Museen und einer Weinschänke geschuldet. Also zeitig in die S1 Richtung Bad Schandau zum ersten Elbe-Labe-Sprinter des Tages, Fahrtzeiten tagesaktuell recherchiert. Zielbahnhof Litoměřice město. Willkommen in Leitmeritz!
Linker Hand vom Bahnhof weisen Barbakane und Mauerreste der alten königlichen Stadt (erste urkundliche Erwähnung 1227, der Stein zur 700-Jahr-Feier befindet sich im Außenbereich der Nordböhmischen Galerie für Bildende Kunst) den Weg ins Zentrum. An Stelle eines Stadttores ziehen den Besucher der Turm und die Zeltdächer der Allerheiligenkirche und das alte Renaissancerathaus geradezu hinein.radobyl-schild
Mírove Náměstí (Friedensplatz) heißt der zentrale Stadtplatz heute. Bissl enttäuscht wird sein, wer an die Kuschelichkeit böhmisch-mährischer Plätze gedacht hatte, denn mit ca. 1,8 ha ist der hiesige Platz vielleicht etwas zu groß geraten und im Sommer ist die mittige Pestsäule (Epidemie von 1680)  vor lauter Bäumen kaum zu sehen. Blickfang wird bald das Kelchhaus. Der Kelch, in meinen Augen eher eine stilisierte Blüte, kann sommers als Aussichtsturm bestiegen werden. Doch stopp, noch davor, unter den Lauben, gleich hinter der GE Money Bank und beinahe etwas unscheinbar, befindet sich die kleine Vinný Šenk. Übersetzen muss ich das wohl nicht, nur kurz erklären, es ist keine Schänke, eher ein kleiner Laden, in dem Wein aus dem Gebiet von Leitmeritz, Groß Tschernosek und dem Berg Radobýl gekauft und getrunken werden kann. Der Fasswein gleicht einem Müller-Thurgau, andere Weine wie Riesling, Burgunder (weiß und „grau“) und Traminer werden aus der Flasche ausgeschenkt, auch örtliche Rotweinsorten sind im Angebot für den, der mag. Ich bitte die freundliche Dame hinterm Tresen jeweils nur um „einen Dezi“ (diese aus k.u.k-Zeiten geläufige Maßeinheit hat sich bis in die heutige Tschechische Republik traditionell erhalten), denn, ich mag schon mehrere Sorten verkosten. Mit Pausen versteht sich und so lasse ich nach der Weintrinkepraxis im Museum der Gotischen Burg (…naja, Palas und Teil eines älteren Zylinderturmes sind erhalten, heute Teile eines modernen Kulturhauskomplexes) die Theorie über die Geschichte des hiesigen Weines folgen. Bereits 1057 wurde am Hang unterhalb des jetzigen Domplatzes mit dem Stephansdom (ja, ja, ein „Steffl“ nicht bloß an der Donau…) bereits Weinbau betrieben, also noch deutlich vor den Zeiten in unseren heimischen Lößnitzbergen. Ich mags glauben, ist es doch e i n möglicher Grund, weshalb die Stadt später Bischofssitz wurde und u.a. auch ein Diözesen-Kunstmuseum beherbergt. Lucas Cranach d.Ä. gibt sich hier die Ehre und sein Hl. Antonius der Eremit kund, offensichtlich mit Hieronymus Bosch vertraut gewesen zu sein, zu ähnlich jedenfalls sind die skurrilen Monster über dessen im Gebet verharrender, charismatischer Gestalt.
Es lohnt sich, durch die Straßen und Gassen der Stadt zu laufen, die Blicke aus den Höfen hinter den Bildermuseen zum Domhügel sind einzig. Unten fließt träge die Elbe dahin. In 4km Entfernung läge Europas letztgebaute Barockfestung mit kapitelschwingendem Namen: Theresienstadt. Details und Winkel, Blickfänge und Geschichten, wer mag, kann auch gern ein verlängertes Wochenende in Leitmeritz verbringen und z.B. im sgraffitiverzierten Hotel SALVA GUARDA (= Rettungswacht, ein 1650 von Kaiser Ferdinand III. dem aus dem 14. Jh. stammenden, jedoch auf älteren Gewölben errichteten Haus verliehene „Schutzmarke“ ritterlicher Tradition) wohnen. Ich behaupte mal, die Zeit wird hier nie lang. Man begegnet auch Spuren von Karel Hynek Mácha oder Felix Holzmann, dem böhmischen Romantiker und dem deutsch-böhmischen Komiker. Oder Kaiser Franz Josef I. Am 17. Juni 1901, so erzählt eine Tafel vorm Eingang der ehemaligen Brauerei stolz, soll er dort einen Ehrentrunk genommen haben und ich höre förmlich seinen Spruch „Es war sehr schön, es hat mich sehr gefreut!“ und glaube, Majestät musste vor lauter hilflos-schwülstiger Reden „Es ist uns, ähm, eine hohe Ehre…“ lange auf sein Bier warten.
Ich mag noch zu einer Wanderung aufbrechen, hab mich nach dem dritten Besuch in der Vinný Šenk verabschiedet, nicht, ohne noch eine Flasche mit Fasswein füllen zu lassen. Vom Oberen Bahnhof/Horní Nádraží führt der gelb markierte Wanderweg (4km) zum Gipfel des Berges Radobýl mit Blick über Wein- und Obstgärten, hinüber zum Lobosch und Milleschauer, bald vorn die engste Stelle im Elbtal des Böhmischen Mittelgebirges, seit Urzeiten Porta Bohemica genannt. Radobýl, deutsch auch Radobil, Radebeule…. Finde ich hier die slawischen Wortstämme für „Freude“ und „war“ bzw. „gewesen“ wieder? Nun, ich weiß nicht so recht und mag die Eisfläche des Fachsimpelns unbetreten lassen, zumal ich im Zug zurück noch eine Begegnung mit einem Typ „böhmischer Stadtindianer“ habe. Er spricht deutsch mit stark österreichischem Akzent und gemahnt meine Mutmaßungen in das Reich der Vorsicht, schließlich wären auch die Kelten hier gewesen und das reichlich vor unsereinem. Aber beim nächsten Besuch sollte ich gleich früh den Rychlik (Schnellzug) Nr. 777 namens Radobýl ab Tetschen-Bodenbach/Děčín hl.n. nehmen und den Elbwein in Melnik und Rudnitz…..
Mein Zug nach Hause fährt an Brna vorbei. Bis Pirna ist es noch ein Weilchen. Wöllte ich noch nach Malá Vele?, käme ich am Ende des Tages nicht mehr an Stadt Wehlen vorbei. Vom Dom in Leitmeritz immer den Fluss und den Wein entlang bis hinter den Dom zu Meißen, Misna….

„Als bewegte sich ein doppelter Spiegel überm Fluss, der die Bilder auf der einen Seite aufsaugt, um sie dann stromschnellenweit wiederzugeben. Gleich? Ja, ganz gleich, nur in anderen Farben, Gebilden und Klängen, Düften und anders streichelnder Luft. Sich dies-zeits begegnen.“

Tobias Märksch

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