Käthe Kollwitz in China

Käthe Kollwitz ist seit den 1930er Jahren in China wohlbekannt. Dies haben wir vor allem Lu Xun zu verdanken. Lu Xun, auch der chinesische Gorki oder chinesische Brecht genannt, war Chinas bedeutendster Schriftsteller des 20. Jahrhunderts. Viele sagen, Lu Xun sei von Kollwitz’ Holzschnitt so begeistert, weil auch analphabetische Menschen die revolutionäre Botschaft verstehen können oder dass er während seines Studiums in Japan schon die Leidenschaft für Holzschnitt wie Kunstwerke von Hokusai entwickelt habe. Meiner Meinung nach sind solche Erklärungen zu vage und ich habe angefangen, das Tagebuch von Käthe Kollwitz und die Briefsammlung von Lu Xun zu lesen. Dabei habe ich die tiefere Verbindung zwischen den beiden entdeckt:

In seinem Prolog von Applaus schrieb Lu Xun, „als wäre im einem Blechhaus ohne Fenster, die Menschen sind fest eingeschlafen, bald werden sie alle ersticken und sterben, aber sie fühlen keine Trauer, weil sie nichts davon wissen. Jetzt ist ein Mann plötzlich wach geworden, und er hat auch paar anderen Menschen aufgeweckt. Die Wachen leiden an Angst und Frustration, weil sie die Situation nicht ändern können. Aber ich denke, wenn es schon paar wache Menschen gibt, werden wir irgendwie doch die Hoffnung haben, das Blechhaus gemeinsam zu zerstören, indem sie alle anderen auch zum Aufwachen bringen.“ Kollwitz hat ihre Radierung im Jahr 1941 unter dem Titel » Saatfrüchte sollen nicht vermahlen werden « gemalt. Sie sagte schon im Jahr 1922, „ich will wirken in der Zeit, in der die Menschen so ratlos und hilfsbedürftig sind.“

Sowohl Lu Xun als auch Kollwitz setzen sich ein, um das Bewusstsein von Menschen zu verändern, um das gedemütigte Volk zu befreien. Sie fordern die Menschen auf, das soziale Unrecht nicht schweigend hinzunehmen, weil die Rechte nur erkämpft werden können, sie werden nicht einfach vom Herrscher geschenkt.

Weder Lu Xun noch Kollwitz geben auf, obwohl es im Moment gar kein Licht in der Dunkelheit zu geben scheint. Kollwitz hat zu diesem Thema immer wieder Kunst geschaffen, auch nachdem sie im Jahr 1933 zum Austritt aus der Preußischen Akademie der Künste gezwungen wurde. Im Jahr 1931 trotz der Angst vor Verhaftungen versuchte Lu Xun seine Studenten zu retten und hielt Reden in der Öffentlichkeit. Im Juli 1936 erkrankte LuXun schwer an Tuberkulose. Er konnte nicht mehr schreiben, aber mit letzter Kraft wählte er seine Lieblingsholzschnitte von Kollwitz aus und veröffentlichte sie als Mappe mit Kollwitz-Reproduktionen in Shanghai. Im Oktober 1936 starb Lu Xun.

Beide sind offene internationale Humanisten. In den 20er Jahren entwarf Kollwitz ein Plakat „Helft Russland“als Beitrag zur Überwindung der Dürrekatastrophe im Wolgagebiet und unterschrieb den Aufruf der Deutschen Liga für Menschenrechte für eine Verständigung mit Frankreich. Lu Xun sprach Japanisch und sogar etwas Deutsch, er erwarb mit Hilfe der amerikanischen Journalistin Agnes Smedley Kollwitz’ Werke. Im Jahr 1918 setzte Agnes Smedley sich für die indische Unabhängigkeitsbewegung gegen England ein und befreundete sich mit Kollwitz. In den 1930er Jahren zog sie nach Shanghai und lernte Lu Xun kennen. Es scheint mir, dass die beiden Künstler keine kulturellen Grenzen kannten.

Sowohl Lu Xun als auch Kollwitz haben sich eine bessere Zukunft vorstellen können und daran geglaubt, dass wir sie realisieren könnten. In Deutschland höre ich oft den Satz, „Es ist halt so, das geht nicht anders.“ In China erzählen viele Freunde mir, dass eine Demokratie dort eh nicht funktionieren könne, weil es so viele Menschen in China gebe. Kollwitz hat den ersten und zweiten Weltkrieg erlebt, ihren Sohn und Enkelsohn durch den Krieg verloren. Sie starb einen Monat vor Kriegsende. In ihrer Lebenszeit wirkte alles so hoffnungslos, weil die Menschen so dumm waren und versuchten, einen Krieg mit einem noch größeren Krieg zu beenden. Lu Xun erlebte den dramatischen Veränderungsprozess in China, in dem das Kaiserreich China abgelöst wurde und China andauernd unter inneren Konflikten litt. Auch Lu Xun starb, bevor er hätte Frieden spüren können. Die beiden Künstler lebten in einer Dunkelheit und glaubten dennoch, dass solches Elend auch ein Ende haben könne.

Unsere Gegenwart war für Kollwitz und Lu Xun die Zukunft. Wie sieht es denn heute aus? Die demokratischen Parteien haben in den 1990er Jahren beachtliche Erfolge erreicht, stehen aber heutzutage hilflos vor der Herausforderung einer immer schnelleren, komplexeren, globaleren Welt. Hätte es Kollwitz, Mann und Einstein überrascht, die AfD in der Bundestagswahl 2017 und Europawahl 2019 die stärkste Partei in Sachsen werden zu sehen? Hätte es sie zu einem neuen Dringenden Appell motiviert? Im Spiegel sieht man sein Bild oft klarer als wenn man an sich herunterblickt; in China jedenfalls sehen wir heute die vielen Schlafenden klarer als in Deutschland, wohl weil die Gefahren präsenter sind. Der technologische Fortschritt ist schneller, der kapitalistische Druck auf alle Teile der Bevölkerung stärker, die Überwachung digitaler. Viele sind stolz auf chinesische Hochgeschwindigkeitszüge, unkritisch gegenüber mobilen Zahlungssystemen mit Gesichtserkennungstechnik, Dank der Parteidogmatik tief im Selbstbetrug gefangen, kaum um die eigenen Rechte und Meinungsfreiheit wissend. Ich denke, dass wir in Deutschland wie auch China noch einen langen Weg vor uns haben bis zu der Welt, die Lu Xun und Kollwitz erträumt und sich erkämpft haben.

Kunst stammt aus dem Leben. Speziell Sehnsucht und Dinge, die wir in der Realität nicht haben, wandeln wir in Kunst um. Ich bin dankbar, dass auch heute Künstler wie damals Lu Xun und Kollwitz lieben und streiten, und dass uns das Vorbild dieser beiden bleibt. Sie sind wie winzige Flammen im Kunstwerk von Anselm Kiefer, trotz aller menschlichen Schwächen und schrecklichen Traumata, brennen sie in Hoffnung und ermutigen uns, nicht aufzugeben.

Fang Han
Kunstkritikerin

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