Rad im Dreck?

Irgendwie scheint die Zeit etwas aus den Fugen geraten zu sein. Gegenwärtig funktioniert nichts mehr so richtig. Dabei hatte sich die Lage erst unlängst entspannt. Aber, im Normalbetrieb kaum angekommen, rollt schon die zweite Welle der Pandemie auf uns zu. Man gewinnt fast den Eindruck, dass das Naturereignis Gezeiten auf die Gesellschaft übergesprungen sei, etwa so wie das Virus auf den Menschen, und das gesellschaftliche System, egal welcher politischen Couleur, fest im Griff hat.

Die Gezeiten kann man nicht beeinflussen, man kann sie höchstens nutzen. Wir wissen heute, dass der Mond für das Naturwunder verantwortlich ist. Ob es Der Mond von links war, jener aus dem revolutionäre sowjetischen Theaterstück von Wladimir Bill-Belozerkowski von 1929, scheint eher fraglich, auch wenn es dem Interesse des Schöpfers sicher entgegengekommen wäre.

Die Auswirkungen dieser Corona-Wellen sind jedenfalls derart heftig, dass so mancher keinen klaren Gedanken mehr fassen kann. Da faselte doch neulich ein Bundespolitiker davon, dass es erst die „Volkswirtschaft“ und dann die „Volksgesundheit“ zu schützen bzw. zu retten gelte. Mal abgesehen von der Reihenfolge scheint mir der wackere Mann mit seinem Ratschlag doch mindestens 80 Jahre zu spät zu kommen. Und so sind die Begründungen für die neuerlichen einschneidenden Maßnahmen mannigfaltig und von Bundesland zu Bundesland recht unterschiedlich. Die Tatsache, dass die Einschränkungen auf keinen Fall die Wirtschaft, die Kinderbetreuung und die Schulen betreffen werden begründete ein sächsischer Kommunalpolitiker u.a. mit der Erkenntnis, dass man verlorene Bildung halt nicht aufholen könne. Eben…

Natürlich muss man Nachsicht üben. Wem ist schon zu Lebenzeiten so eine Katastrophe widerfahren, mal vom Krieg abgesehen? Und der ist auf deutschen Boden ja auch schon 75 Jahre her. In Kötzschenbroda jedenfalls ereignete sich die letzte große Seuche 1680. Damals wurden 279 Pesttote beerdigt. Gegenwärtig sieht es da wirklich entspannter aus. Es ist ja nicht so, dass überall die Lichter ausgegangen wären. Es blubbert und quabbert doch noch ganz schön, nicht nur in Radebeul. Dort gab es unlängst eine kleine Ausstellung von einer Berliner Künstlerin in der Wilhelmshöhe in Wahnsdorf. Der Kulturbahnhof in Radebeul-Ost machte mit einer Lesung mal wieder als Kulturbahnhof auf sich aufmerksam. Sogar den traditionellen Grafikmarkt in der Ballspielhalle in Radebeul-West konnte man besuchen. Aufzuzählen gäbe es noch manches. Alle Veranstaltungen fanden natürlich unter strengen Hygienebedingungen statt. Neulich war ich auswärts in einer Theatervorstellung. Auch wenn der Genuss etwas eingeschränkt war – auf meiner Reihe saßen nur zwei Zuschauer – die Schauspieler haben mit großer Freude gespielt. Die 85-Jahr-Feiern zum Radebeuler Stadtgeburtstag sind allerdings so leise begangen worden, dass man denken konnte, sie hätten am Ende gar nicht stattgefunden.

Es ist halt immer so: in Krisenzeiten wird zuerst dort gespart, wo man glaubt etwas entbehren zu können. Und Kultur ist ja für viele immer noch das berühmt-berüchtigte Sahnehäubchen auf der schon übersüßen Torte. Natürlich liegt hier der Fall etwas anders. Und weil wir gerade bei der Wirtschaft waren – die Kulturwirtschaft ist eben auch ein Teil dieser Volkswirtschaft und kein unerheblicher. Dessen Anteil am Bruttoinlandsprodukt liegt gleich hinter der Autoindustrie an zweiter Position. Drehte man hier vielleicht an der falschen Schraube, als beispielsweise alle Theater, Museen und Galerien abrupt geschlossen wurden? Selbst bei der Kulturstaatsministerin Monika Grütters kamen da Zweifel auf.

Nicht dass wir uns falsch verstehen: Die Gesundheit hat natürlich den Vorrang, nicht die Volkswirtschaft! Doch bei den teilweise chaotischen Krisenmanagements und den zahlreichen hilflos wirkenden Appellen an die Bevölkerung drängen sich schon Fragen auf. So zum Beispiel: Wie baut man in einer Ich-Gesellschaft auf Vernunft und gegenseitige Rücksichtnahme? Läuft hier vielleicht mehr als nur ein Rad im Dreck?

Euer Motzi

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