Der Mohr hat seine Schuldigkeit getan …

Erinnerungskultur ist gefragt.
Die von wohlmeinender Jugend entfachte Diskussion über die Namen „Mohrenhaus“ und „Mohrenstraße“ erinnert mich an ein Gedicht aus dem „Struwwelpeter“, das auch heute noch geläufig sein dürfte:

„Es ging spazieren vor dem Tor
Ein kohlpechrabenschwarzer Mohr …“

Ihm folgte, wie es auch heute noch immer wieder vorkommt, eine Rotte johlender und pöbelnder Rotzjungen, die der „große Nikolas“, nachdem er sie erfolglos zu mäßigen versucht hatte, kurzerhand in sein Tintenfass tauchte:

„…hätten sie nicht so gelacht,
hätt Niklas sie nicht schwarzgemacht.“

Die Botschaft bedarf keiner Erläuterungen.

Die Bezeichnung „Mohr“ ist jedenfalls vom Autor des Gedichtes nicht diskriminierend gebraucht worden. Sie ist auch historisch nicht ausschließlich abwertend gemeint. So drücken die „Mohrenapotheken“ in diesem Namen ihre Hochachtung vor orientalischer Weisheit aus und ihren Anspruch an der Teilhabe am Weltwissen – und damit „Globalisierung“ im besten Sinne des Wortes.
Dennoch ist das Wort wie viele andere auch Ausdruck großdeutschen Überheblichkeitswahns mit allen seinen unschönen Auswüchsen.
Aber: Ändert sich das, wenn wir das Wort schamhaft wegschweigen? Verschwindet damit der Geist, der es zum Schimpfwort macht? Führt diese Art von Vergangenheitsbewältigung nicht vielmehr zu Vergangenheitsverdrängung und – schlimmer noch – zur Verdrängung tagesaktueller Schuld?

Wie ändert sich die Geschichte, wie sieht unser Gedicht aus, wenn wir den „Mohren“ einfach rausstreichen?

„Sieh, da spaziert vor unsrer Tür
Jemand der anders ist, als wir …“
Bleibt deswegen der Mob zu Hause?

Wir können unsere Vergangenheit nicht einfach wegschweigen und können auch Kunst und Literatur nicht rückwirkend ändern.

Zur Erinnerungskultur gehört, Verfehlungen zur Kenntnis zu nehmen und alte Schuld anzunehmen.
In seiner Dankesrede bei der Entgegennahme des Friedensnobelpreises sagte Dr. Martin Luther King 1964:
„…Wir haben gelernt, die Luft zu durchfliegen wie die Vögel und das Meer zu durchschwimmen wie die Fische, aber nicht die einfache Kunst, als Brüder zusammenzuleben.“

Daran hat sich bis heute nichts geändert. Und es wird sich auch künftig nichts ändern, wenn wir nicht aufhören, unseren Müll von afrikanischen Kindern sortieren zu lassen – Missachtung drückt sich nicht nur in Worten aus.

Es nützt der Zukunft mehr, wenn wir in der Bezeichnung „Mohrenhaus“ alte Schuld und neue Verantwortung anerkennen und uns öffnen, mit dem „Mohren“ brüderlich zusammenzuleben. Und wenn er „seine Arbeit getan“ hat, bekommt der Mohr, wie jeder andere auch, eine anständige Rente.
Thomas Gerlach

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