Radebeuler Miniaturen

Post – scriptum

Ein neuer Morgen ist geworden, und wieder gibt es drei Möglichkeiten:

Nach dem Studium der Tagespresse ist Ulrike entweder depressiv oder wütend (sie liest erstaunlicher Weise immer die politischen Beiträge, obwohl dort nichts weiter steht, als der täglich erneuerte Beweis dafür, welchen Verlust die Menschheit durch das Aussterben der Neandertaler erlitten hat). Heute kommt sie mir euphorisch entgegen: Haste gelesen?! Die alte Post wird Musikschule! Sie lacht. Endlich mal ne gute Nachricht.

Die armen Musikschüler, sage ich, ohne zu bedenken, was das Dämpfen ihrer Begeisterung für mich bedeuten kann. Aber zu spät –raus ist raus.

Erwartungsgemäß ist Ulrike gleich wieder empört: Wieso?! fragt sie aufgebracht. Das ist ein wunderschönes Haus, neugotisch angehaucht, unauffällig zweigeschossig mit ausgebautem Mansarddach und schön gegliederter Fassade. Über dem gewölbten Eingang links liegt sogar ein ovales Fensterchen. Der zentrale Postentwurf stammt schon aus dem Jahr 1914. Leider wurde kriegsbedingt die Fassade vereinfacht – mit Rundbogenfenstern hätte der Bau noch vornehmer ausgesehen. Jedenfalls ist das alles viel besser, als die sogenannten modernen Schulkisten von heute.

Bleib gelassen auf dem Teppich, rufe ich ihr zu, das weiß ich alles, auch daß seit 1915 gebaut und ab 1916 schon der Postbetrieb aufgenommen wurde bei laufendem Bau, der noch bis 1921 dauerte. Das war sicher nicht einfach, unter Kriegsbedingungen anständig zu bauen.

Ja und – fährt Ulrike auf, was faselst du dann von „armen Musikschülern“?

Hast du nie versucht, frage ich zurück, ins Innere eines solchen Postgebäudes zu gelangen? Die ohnehin schweren Türen gingen so schwer auf, daß so manches Mütterchen ratlos davor stand und dachte, die Post sei geschlossen. Und dann die Luft da drin – ein Gemisch aus Ärmelschonern und Stempelkissen – zentrale Post-Amts-Luft, sofort nach Fertigstellung aus Berlin eingeblasen und überall gleich im ganzen Reich – wo du auch warst, Hamburg, Stuttgart, Trier oder eben Radebeul, wenn du mit geschlossenen Augen in ein Gebäude geführt wurdest, wußtest du nach dem ersten Atemzug: Du bist auf der Post.

Und was davon macht die Musikschüler „arm“? Ulrike läßt nicht locker, wenn sie dich einmal hat.

Na, die schwere Tür. Stemm dich da mal gegen, mit nem Instrument auf dem Rücken! Flöte mag ja noch angehn, aber wenn du klein bist, und was Großes schleppst… Und dann die Luft natürlich. Da kannste doch nicht singen? Höchstens Carl Zeller; „Ich bin die Christel von der Post …“ aber ob du damit die Kinderchen von der Konsole weglocken kannst…?

Da ist sie sprachlos, Ulrike, einen ganzen Augenblick lang wirklich sprachlos – das gelingt mir nur ganz selten. Aber dann seh ichs schon wieder blitzen in ihren Augen.

Ich bin immer wieder froh, sagt sie drauf, daß ich nicht deinen Kopf habe. Du solltest den Inhalt post mortem untersuchen lassen. Vielleicht kannste die Wundertüte ja schon zu Lebzeiten an ein Kuriositätenkabinett verkaufen, die ist bestimmt ein Vermögen wert.

Wie wir uns dann zum Kaffee treffen, ist jedoch fast schon wieder alles gut.

(Aber mal ganz ehrlich jetzt: ich finde es wirklich herrlich und beispielgebend, daß im Falle der Post nicht erst gewartet wird, bis das ganze einfällt, wie drüben am Bahnhof – doch das sag ich ihr erst nachm Abendbrot beim Wein…).

Thomas Gerlach

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