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Arthur Millers „Ein Blick von der Brücke“ feierte am 12. Februar Premiere

Szene mit Alexander Wulke Foto: R. Jungnickel

Der US-amerikanische Dramatiker Arthur Miller (1915 – 2005) gehört mit seinen beiden Stücken „Tod eines Handlungsreisenden“ und „Hexenjagd“ längst zum Kanon des sozialkritischen Theaters des 20. Jahrhunderts. Ein weiteres, dem Publikum allerdings weniger bekanntes Werk gelangte jüngst auf der Hauptbühne im Radebeuler Stammhaus vor zwar noch immer nicht vollen Rängen, aber dennoch vor ausverkauftem Saal zur Aufführung, „Ein Blick von der Brücke“ (1955). Miller verarbeitet in diesem als Kurzdrama bezeichneten Zweiakter eine Geschichte, die in ihrer örtlichen und sprachlichen Verankerung zwar auf konkrete Lebensumstände italienischer Einwanderer im New York der 1950er Jahre bezogen ist, die aber ebenso auch als Stück über Flucht und Migration in unserer Gegenwart durchgehen könnte. Erfreulicherweise enthalten sich Regisseur Manuel Schöbel und Ausstatterin Barbara Blaschke der Versuchung, explizit darauf anzuspielen und damit die Aussagekraft des auf reale Vorkommnisse basierenden Stoffes pädagogisch zu instrumentalisieren und politisch aufzuladen. Das wäre umso unpassender gewesen, als dass Miller selbst den Handlungskern einem griechischen Mythos vergleichbar auffasste und daraus eine überzeitliche Allgemeingültigkeit ableitete. Stattdessen also belässt das Regieteam die Inszenierung in ihrer Bild- und Tonsprache dort, wohin sie gehört: In ein ärmliches, dem Hafen von Brooklyn nahe gelegenes Häuschen, in welches das jazzig-lockere Lebensgefühl des besser gestellten Teils der Bevölkerung der 1950er Jahre per Radio als Sehnsuchtsmelodie aus Manhattan hineinweht, wie etwa Gene Kelly mit „I’m singing in the rain“. Davon ist vor allem die 17-jährige Catherine (Maria Sommer) ergriffen, die als (über-) behütete Waise bei ihrer Tante Beatrice (Julia Vincze) und deren Mann Eddie (Alexander Wulke) aufwächst und sich nun anschickt, unsicheren Schrittes erwachsen und selbstständig werden zu wollen. Marias Emanzipationsstreben erhält unerwartet Vorschub durch das Eintreffen von Marco (Steffen Pietsch) und vor allem dessen jüngerem Bruder Rodolpho (Felix Lydike), die als Beatrices Cousins aus der italienischen Heimat illegal eingewandert sind und Unterschlupf in Eddies Haus finden. Die Aufnahme illegaler Einwanderer ist in italienischen Hafenarbeiterkreisen Ehrensache, man hält und rückt buchstäblich zusammen, um den Neuen das Einleben zu erleichtern. Es könnte also alles gut werden und sich vielleicht sogar für die beiden jungen Männer der American Dream vom Aufstieg erfüllen. Doch schon wenige Minuten nach Ankunft der beiden Brüder liegt dem Zuschauer das konfliktträchtige Tableau vor Augen, wird ihm klar, dass es kein Happy End geben wird. Denn Maria und Rodolpho finden Gefallen aneinander, weshalb Maria mehr und mehr schlechtes Gewissen gegenüber ihrem Ziehvater Eddie befällt, der insgeheim in Catherine mehr sieht als nur seine Ziehtochter und deshalb Rodolpho seine Ablehnung spüren lässt. Dazwischen steht Beatrice, deren Ehe mit Eddie auch nicht mehr auf das Beste bestellt ist und die Catherine das Glück wünscht, das ihr versagt geblieben zu sein scheint. Das Stück bezieht seinen Reiz vor allem daraus, dass Millers Text es dem Zuschauer möglich macht, grundsätzlich Sympathien für alle Figuren und deren Handlungen und Überzeugungen zu entwickeln, gleichzeitig aber auch drängende Fragen nach Schuld und Verantwortung für die sich anbahnende Katastrophe aufwirft. An dieser Stelle bedient sich Miller in der Tradition des epischen Theaters mit der Figur des Anwaltes Alfieris eines Kommentators (Matthias Avemarg), der das Publikum nicht nur zu Beginn sowohl in das Bühnengeschehen einführt und es am Ende in den Abend entlässt, sondern zwischendurch auch das Geschehen einordnet und reflektiert. Daher rührt auch der Titel des Stückes, denn Alfieri steht etwas abseits des Geschehens und schaut – wie von einer Brücke – auf die Szenerie herab, wodurch sich ein objektiveres Bild der Lage einstellt.
Der Premiere, die vom 5. Februar um eine Woche verschoben werden musste, merkte man den gewiss komplizierten Probenprozess unter Pandemiebedingungen an. Obwohl das Stück grundsätzlich eine stringente Dialogführung aufweist und es also keine Nebenhandlungen gibt, verliert es phasenweise an Tempo, scheinen Abläufe noch nicht bis ins Letzte „zu sitzen“, stellen sich ungewollte Pausen ein, scheinen Akteure überrascht zu sein von dem, was sich gerade abspielt. Möglicherweise saß den Beteiligten auch noch der Schreck des Bühnenbrandes vom Mittag des Premierentages in den Gliedern, der allerdings rechtzeitig unter Kontrolle gebracht werden konnte. Wenn man von diesen Punkten absieht, so bleibt viel Gelungenes von diesem Abend in Erinnerung. Dazu gehören etwa das ausgesprochen sinnstiftende und praktische Bühnenbild, Alexander Wulkes Interpretation des Eddie in ihrer kraftvollen Gebrochenheit und Maria Sommer und Felix Lydike als jugendliche Protagonisten, die sich einer besseren Zukunft entgegenträumen. Dazu zählt weiterhin Matthias Avemarg in seiner überzeugenden Wandlungsfähigkeit zwischen seiner großen Rolle als Anwalt und den vier anderen Nebenrollen sowie die passende Musikauswahl mit dem Gassenhauer „Paper Dolls“ als zentraler Sing- und Tanznummer. Das Publikum dankte mit langem, sehr freundlichem Applaus für eine geschlossene Ensembleleistung, die eines spüren ließ: Nämlich die Erleichterung darüber, dass jenseits von FFP2-Maskenpflicht und strenger Einlasskontrolle einfach nur Theater gespielt wurde.
Bertram Kazmirowski

Nächste Aufführungen: 4./5. März jeweils 19.30 Uhr, 13. März 15 Uhr, 24. März 19 Uhr, jeweils im Stammhaus Radebeul

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