Radebeuler Miniaturen

Das Urteil

An delphischem Lorbeer war ihm nie gelegen. Ein Denkmal, dauerhafter als Erz? Um Himmelswillen, bloß nicht!
Im Stillen vergessen wollte er werden, denn das Vergessen war es, das ihm zeitlebens verwehrt geblieben ist.
Hoffnungsvoll war er zur Welt geboren, wie jedes Kind. Die Mutter aber sah bald den Soldaten in ihm, den Helden, der er nicht war und der er nicht werden konnte. Erspart blieb ihm nichts: Siebzehnjährig sollte er im letzten Aufgebot „für Führer, Volk und Vaterland“ die Kartoffeln aus dem Feuer holen. Aber da waren keine mehr. Ohne großen Schaden angerichtet haben zu können, geriet er in Kriegsgefangenschaft. Immerhin hatte er mehr erlebt, als gut für ihn war. „Schön ist die Jugend, sie kehrt niemals wieder …“ daß ich nicht lache! Ha!
Als er nach Hause kam, waren die Jugend vorbei und die Gesundheit ruiniert. Was ihm blieb, waren Magenkrämpfe, Darmkoliken und schwere Träume, für die kein noch so geschulter Mediziner auch nur den Hauch einer Ursache finden konnte. Was ihm verwehrt blieb, war das Vergessenkönnen.
Erst als er mit achtundachtzig Jahren starb, war der Krieg für ihn beendet.

Die Schäden jener bösen Jahre vor 1945 sind noch längst nicht behoben, auch wenn die Frauenkirche „schön wie nie…“ über Dresden ragt. Selbst wenn der letzte Zeitzeuge erlöst sein sollte, tragen wir Nachgeborenen weiter an dieser Last, bis ins vierte Glied.
Gut siebzig Jahre immerhin lebte die Hoffnung auf ein NIE WIEDER!
„Schwerter zu Pflugscharen…“ diese schöne Vision trug auch ich jahrelang am Ärmel. Doch spätestens mit dem Anschlag auf die Twintowers begann die Illusion zu bröckeln. Nun ist sie zerstört.

Ich bin dankbar, daß meinem Vater das Erlebnis des Rückfalls in die Steinzeit der Gewaltrhetorik erspart geblieben ist!

Am 1. September 1939 begann der zweite Weltkrieg. Wir haben immer noch nichts gelernt. Und es besteht keine Aussicht auf Besserung.
Wir Nachgeborenen der Kriegsväter und Kriegsgroßväter sollten uns zusammentun und als Menschheit den Ehrentitel „homo sapiens“ (d. i. „der verständige Mensch“) für immer als ungerechtfertigt zurückgeben!

Im Augenwinkel nehme ich wahr, wie Ulrike auf Zehenspitzen aus dem Zimmer schleicht und leise die Tür hinter sich zuzieht …
Thomas Gerlach

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