Verkürzt geöffnet, länger geschlossen

Über Gaststätten als gefährdete touristische Infrastruktur

Bild: B. Kazmirowski


Die “Vorschau”-Hefte des Jahres 1993, also vor genau 30 Jahren (!), setzten einen Schwerpunkt, der aus heutiger Sicht auf den ersten Blick etwas befremdlich anmuten mag: Wir stellten unter der Rubrik „Stiftung Gaumentest“ Gaststätten in Radebeul und Umgebung vor. Diese thematische Reihe wurde sogar schon 1990 begonnen und bis 1994 fortgesetzt, aber der Jahrgang 1993 sticht hervor, weil tatsächlich in jedem Heft eine Restauration beschrieben und im Hinblick auf Gastlichkeit und Preis-Leistungs-Verhältnis beurteilt wurde. Warum die „Vorschau“ damals dieses Thema setzte? Weil mit der Erfahrung aus den Jahren der DDR, in denen man in den Gaststätten zumeist warten musste, bis man „platziert“ wurde, die Erkenntnis reifte, dass eine gut ausgebaute gastronomische Infrastruktur zu jeder Kulturlandschaft gehört. Auf Dauer funktioniert Tourismus nur mit Möglichkeiten zur Einkehr. Und über die damals stetig wachsende Vielfalt solcherart Örtlichkeiten in unserem Verbreitungsgebiet wurde eben berichtet, was den Lesern unseres Kulturheftes gut gefiel. Besonders auffällig an dieser Reihe war, dass für den Leser unklar blieb, wer eigentlich die Gaststätte inkognito besucht und anschließend im Heft besprochen hatte, denn als Autor stand immer nur „Ihre Stiftung Gaumentest“ unter den Beiträgen. Interessant an den besprochenen Lokalen des Jahres 1993 ist aus der Sicht von heute auch, dass einige der traditionellen Gasthäuser noch immer existieren, gleichwohl gastronomisches Konzept und/oder Betreiber inzwischen mitunter gewechselt haben, z.B. „Spitzhaus“ (1/93), „Zu den Linden“ (2/93), „Börse Coswig“ (3/93), „Grundmühle“ (4/93) oder „Zum Bürgergarten“ (11/93). Andere der damals aufgeführten Einrichtungen haben längst geschlossen und dürften z.T. nur noch einem kleinen Teil der Leserschaft bekannt sein, wie etwa das „Café Noteingang“ (ebenfalls 4/93) oder „Pauls Bierstuben“ (5/93). Die räumliche Verteilung der gastronomischen Einrichtungen im Stadtgebiet hat sich seit den frühen 1990ern natürlich insoweit verändert, als dass mit der Sanierung des Dorfangers Kötzschenbroda ein weit über die Stadtgrenzen hinaus bekanntes und beliebtes Zentrum entstanden ist, in dem sich verschiedene Restaurants, Cafés und Bars aneinanderreihen und die Auswahl entsprechend groß ist. Das hat(te) auch Auswirkungen auf andere Teile Radebeuls, in dem praktisch keinerlei ganzjährig geöffnete Gaststätten mehr existieren, z.B. in Lindenau (wenn man von der saisonabhängig geöffneten „Welle“ im Bilzbad absieht) oder auch in Serkowitz (der traditionsreiche „Gasthof Serkowitz“ gibt seit 2012 wenigstens dem Lügenmuseum eine Heimat). Kein Geheimnis aber ist auch, dass nicht erst durch die Pandemie die Herausforderungen für die Gastronomen weiter gewachsen sind und es schwieriger geworden ist, den Betrieb aufrecht zu erhalten, was Auswirkungen auf die Öffnungszeiten hat. Zwei Beispiele aus eigenem Erleben seien genannt. Im August 2022 sah sich der Betreiber eines Weingutes mit Gastbetrieb unterhalb der Oberlößnitzer Weinberge gezwungen, die gastronomische Ausgestaltung eines seit mehreren Monaten für September geplanten 50. Geburtstag wegen Personalmangels kurzfristig abzusagen. Schaut man sich zu Jahresbeginn 2023 auf den Websites einiger Restaurants um, wird klar, wie leergefegt der Markt an Fachkräften sein muss. „Zu den Linden“ und das „Spitzhaus“ suchen aktuell Restaurantfachkräfte, Köche und Küchenhilfen und die „Lößnitztalschänke“ einen Koch bzw. eine Köchin. Anderswo wird es wohl ähnlich aussehen. Zweites Beispiel: Im September 2022 standen zwei bierdurstige Freunde gegen halb Neun am Abend vor der Lößnitztalschänke, die eigentlich bis 22 Uhr geöffnet hat, aber wurden aus Mangel an Gästen wieder weggeschickt, denn man wollte lieber eher schließen. Mangel an Gästen? In Zeiten, wo alles teurer wird, überlegt man sich eben zweimal, ob man sich mit Freunden auf einen Happen oder ein Bier in einer netten Gaststätte trifft oder sich doch lieber zu Hause selbst kümmert. Hier verbinden sich also zwei ungünstige Faktoren zu einer Gemengelage, die seit einiger Zeit das auswärtige Essen und Trinken weniger planbar macht als es wünschenswert wäre. Hinzu kommt als neueste Sorge noch, dass die Auswirkungen von Inflation und gestiegenen Energiepreisen die Betreiber dazu zwingen, Öffnungszeiten (noch mehr) einzuschränken, weil man sich nicht leisten kann, in besucherarmen Zeiten Küche und Gasträume betriebsbereit zu halten. Ein in dieser Hinsicht bestürzender Befund ergibt sich, wenn man einen Restaurantbesuch an Werktagen zur Mittagszeit ins Auge fasst. Touristen, die jetzt zu Jahresbeginn in der Oberlößnitz unterwegs sind, können sich nur entscheiden, ob sie sich im Asia-Schnellimbiss auf der Meißner Straße/Ecke Schildenstraße etwas zum Mitnehmen holen, sich im Asia Restaurant Ha Long Ecke Meißner Straße/Rosenstraße versorgen oder in die Lößnitztalschänke einkehren. Von den „Linden“ über den „Römer“ und das „Atlantis“ bis hin zum „Spitzhaus“ haben alle einschlägigen Restaurationen oberhalb der Meißner Straße wochentags zur Mittagszeit geschlossen. Und die hoteleigenen Restaurants „Nizza“ im Radisson Blue bzw. das Sterne-Restaurant im „Haus Sorgenfrei“ eignen sich wenig für Touristen, die im moderaten Preissegment speisen möchten. Mit dieser Zustandsbeschreibung verbinde ich keine Kritik an den Gastronomen, vor deren Arbeit unter den genannten Umständen ich Respekt habe und den Hut ziehe. Es ist nachvollziehbar, dass man so wirtschaften muss, dass am Ende des Tages auch Gewinn erzielt wird, die Löhne in der Gastronomie sind ohnehin schon nicht sehr hoch, ohne Selbstausbeutung ist ein Betrieb kaum aufrechtzuerhalten. Es bleibt nur zu hoffen, dass die gegenwärtig trübe Lage sich im Frühling und Sommer wieder aufhellt, wenn die Tourismussaison Fahrt aufnimmt. Denn eines ist doch klar: Eine Stadt mit der landschaftlichen Schönheit und den touristischen Ambitionen wie Radebeul sollte seinen auswärtigen Gästen (und den Einheimischen!) mehr bieten können als nur einen eng umgrenzten Bereich in Kötzschenbroda, an dem zu allen Tageszeiten hungrigen und durstigen Gästen geholfen wird. Was kann man tun? Ein Gedanke ist, dass jeder von uns auch Gaststätten fairerweise im weitesten Sinne zu den Kultureinrichtungen zählen sollte, denn das gepflegte Mahl begleitet von passenden Getränken in ansprechendem Ambiente ist Ess-Kultur, wie vor 30 Jahren auch die „Stiftung Gaumentest“ meinte. Aber anders als die „normalen“ Kultureinrichtungen bekommen Gaststätten keine Fördermittel oder Subventionen der öffentlichen Hand, sondern leben schlichtweg vom Zuspruch der Kundschaft. Um es auf den Punkt zu bringen: Sie leben von uns allen und davon, dass wir mit jedem Restaurantbesuch auch ein kleines Stück dazu beitragen, dass die noch existierenden Restaurationsbetriebe auch weiterhin bestehen und im besten Fall ihre Öffnungszeiten guten Gewissens wieder ausdehnen können. Auch wenn wir Einheimische womöglich nicht zwingend an einem Werktag zur Mittagszeit in der Oberlößnitz essen gehen müssten: unsere nächsten Hochzeiten, runden Geburtstage und Konfirmationen kommen bestimmt. Und wer ist da nicht froh, eine Auswahl an geeigneten Einrichtungen wohnortnah vorzufinden?

Bertram Kazmirowski
 

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