Als die Läden noch den Namen von Leuten trugen

(und die Anekdoten von heute geboren wurden)

In seinem Editorial im Oktoberheft erwähnte Sascha Graedtke die Schließung des Geschäftes von Lars Bellmann auf der Meißner Straße 88, in dem der Inhaber seit Ende der 1990er Jahre überwiegend Tabakwaren, Zeitschriften und Schreibwaren verkauft hatte. Auf dem Schild über dem Laden, das inzwischen entfernt ist, war allerdings auch zu lesen, dass man als Sammler von Münzen und Briefmarken dort auch fündig werden konnte, was in den letzten Jahren allerdings nur noch ein ganz kleines Segment des Umsatzes ausgemacht haben dürfte. Ganz anders war die Situation vor 40 Jahren, als das Ehepaar Eiffler den Laden führte. Daran wurde ich erinnert, als ich von der Schließung des Ladens von Herrn Bellmann las. Und einmal angefangen ließen auch mich die Erinnerungen nicht mehr los… Ich nehme Sie, liebe Leserinnen und Leser, deshalb mit auf einen kleinen Spaziergang entlang meines magischen Kindheitsdreiecks, dessen Ecken vom Briefmarkenladen Eiffler, den Geschäften an den Linden und den Geschäften bzw. Läden an der Ecke Maxim-Gorki-Straße-/Reichsstraße in der Oberlößnitz begrenzt wurde.

 

Meißner Straße 88 Foto: B. Kazmirowski

Mein täglicher Schulweg führte mich frühmorgens an der Bäckerei Werner vorbei, die im Erdgeschoss des Eckhauses Reichsstraße/Maxim-Gorki-Straße ihre Backwaren anbot. Der Verkaufsraum war sehr klein und schon gar nicht barrierefrei, denn eine Treppe führte von zwei Seiten zur Eingangstür. Dumm nur, dass der Laden früh gegen 7 Uhr, als schon der Duft frischer Brötchen aus der Backstube im Keller bei geöffnetem Fenster nach draußen strömte, noch nicht offiziell geöffnet hatte. Wir Schulkinder hatten natürlich alle unsere, nun ja, blechernen Brotdosen (meine war wenigstens zweifarbig, die meisten Mitschüler hatten welche in Silber) im Ranzen, aber was waren die von fürsorglich besorgten Müttern mitgegebenen Pausenbrote gegen frische, warme, duftende Semmeln für 5 „Pfenge“ das Stück oder für einen Groschen, wenn es gleich ein großes, ein „doppeltes“ Brötchen sein sollte? Also schnell hingekniet auf das Gitter, an die Fensterscheibe geklopft und ein erwartungsfrohes „Hallo?“ in den Duft hineingerufen. Alsbald erschien eine freundliche Bäckersfrau und fragte, was es denn sein dürfe. Das bissel Geld, was man so als Zweit- oder Drittklässler bei sich hatte reichte allemal ab und zu für ein oder zwei Semmeln. Hatte man gerade Taschengeld bekommen oder sonst irgendwie etwas mehr bei sich, durfte es auch ein lecker Pfannkuchen für 20 Pfennige sein, der dann durch

Lichtschachtgitter zum Backraum Foto: B. Kazmirowski

die Gitterstäbe nach draußen gereicht wurde. (Erinnern

Eckhaus Maxim-Gorki-Straße-Reichsstraße, ehemals Bäckerei Werner Foto: B. Kazmirowski

Sie sich noch an die mattgoldkupfern glänzenden Zwanzigpfennig-Stücke? Ein solches Exemplar vertelefonierte ich gelegentlich mit Freunden auf dem Rückweg von der Schule in der Telefonzelle, die direkt vor der Bäckerei stand, gleich neben der Litfaßsäule. Irgendwen konnte man immer anrufen, ein zerfleddertes Telefonbuch hing ja mit drin. Beides gibt es längst nicht mehr.) Zurück zum Bäcker: Blöd nur, wenn auch andere Kinder auf die gleiche Idee wie ich kamen und sich so eine hockend-kniende Warteschlange vor dem Kellerfenster bildete. Brav weiterlaufen und pünktlich an der „Kleinen Schule“ auf der Bennostraße ankommen (der Weg war weit!) oder stehen bleiben, warten und dann rennen – das war die Frage, denn die Brötchen musste man ja erst noch langsam und genussvoll verspeisen! Die Bäckerei Werner schloss relativ unvermittelt, wenn ich das richtig nachvollziehe im Frühling 1981 oder 1982 – ein herber Einschnitt im Leben für uns Schulkinder! Nachmittags, auf dem Nachhauseweg, hörte ich vor allem im Sommerhalbjahr manchmal ein vernehmliches Klopfen, Pochen und Hämmern aus einem Flachbau direkt hinter der Bäckerei parallel zur Reichsstraße (1986 wurde sie in Jean-Bertrand-Straße umbenannt, was keiner von uns Kindern kapierte, 1991 erfolgte dann schon die Rückbenennung). Was da pochte, hämmerte und klopfte war der alte Schuhmacher Ahnert, ein kleingewachsener Mann mit grauem Haarkranz, einen runden Kopf mit wachen Augen auf dem zumeist nach vorn gebeugten Nacken tragend. Meister Ahnert betrieb dort seine Werkstatt, er trug immer einen graublauen Kittel. Ich kann mich nicht erinnern, je draußen auf der Maxim-Gorki-Straße (von dort erfolgte der Zugang zum Grundstück) ein Schild gesehen zu haben, das auf diesen Handwerksbetrieb hinwies. Man wusste einfach, dass dort Meister Ahnert nähte, klebte, flickte und eben auch mit dem Hammer kräftig auf die Sohlen pochte. Manches Mal sind ein Freund und ich einfach in die Werkstatt rein und haben ihm zugeschaut, wie er auf seinem Schemel saß und sich an Schäften, Sohlen und Absätzen zu schaffen machte. Einfach gucken und schauen, wie Handwerk geht. Den Klebstoff habe ich heute noch in der Nase. Meine Bekanntschaft mit Herrn Ahnert war einmal von großem Nutzen für mich. Am Vortag einer langen Sommerurlaubsreise sollte ich meine Sachen packen und stellte fest, dass meine Sandalen hinüber waren. Das hatte ich natürlich vorher nicht bemerkt. Meine Mutter schlug die Hände über den Kopf zusammen. „Junge, das bekommen wir in der PGH (= Produktionsgenossenschaft des Handwerks) bis morgen nicht repariert!“. Ich: „Mal sehen.“ Und ab zu Ahnert, rein in die Werkstatt, Problem geschildert, Sandalen noch am gleichen Abend repariert wieder abgeholt. Preis: Vielleicht zwei Mark? Oder vier? Ganz sicher habe ich mich artig bedankt, darauf legten meine Eltern wert. Auf der anderen Seite der Hofeinfahrt schloss sich das Haus an, in dem im Erdgeschoss die Fleischerei Hartmann bis in die 90er residierte. Fleischerei Hartmann war eine Institution im Wohnviertel. Donnerstags ab spätestens 14 Uhr bildete sich eine lange Schlange, denn an diesem Tag nach der Mittagspause gab es immer die besten Sachen, die eine gute kochende Hausfrau (damals gab es tatsächlich sehr wenige kochende Hausmänner) für den Sonntagsbraten brauchte. Allerdings konnten sich donnerstags 14 Uhr nicht viele gut kochende Hausfrauen in die Schlange einreihen, denn manche von ihnen mussten arbeiten, wie meine Mutter etwa. Also hatte ich den wichtigen Auftrag, den Platzhalter bis 15 Uhr zu spielen, wenn der Laden wieder öffnete, immer in der Hoffnung, dass meine Mutter auch rechtzeitig käme. Meistens kam sie pünktlich, und ich bekam drinnen eine Scheibe Wurst oder eine Wiener auf die Hand. Auf die Hand bekamen wir Kinder und Jugendlichen auch fast immer etwas bei der Bäckerei Bär an den Linden. Glücklich waren wir, wenn auf die Frage „Haben Sie Kuchenränder?“ Frau Bär oder einer ihrer Mitarbeiterinnen in dem Raum hinter der Ladentheke verschwand und mit einer Tüte Kuchenränder wieder auftauchte. Als wir zu Hause waren, war die Tüte leer. Besonders Obstkuchen war der Renner, weil am Teigrand auch immer noch Obst hing. Fast genau auf der Linie zwischen dem kulinarischen Zentrum Maxim-Gorki-Straße/Reichsstraße (außer Bäckerei Werner und Fleischerei Hartmann gab es auch damals schon die Gaststätte „Zum Römer“) und den Linden gab es spätestens seit den 1970ern auf der Karl-Marx-Straße eine weitere kleine, versteckt liegende Werkstatt, und zwar die des Sattlermeisters Werner Gallitschke. Auch so eine Legende wie Schuhmachermeister Ahnert! Zu Herrn Gallitschke konnte man alles aus Leder bringen, also vor allem Gürtel, Jacken und Taschen. Schulranzen, Arbeitstaschen und Umhängetaschen gingen halt kaputt bei täglichem Gebrauch, und wer wusste schon, ob es im Taschenladen auf der Wilhelm-Pieck-Straße, direkt neben Eifflers Briefmarkenladen, Ersatz geben würde? Ich weiß nicht, wie oft ich bei Herrn Gallitschke vorstellig wurde, um meinen Schulranzen, später auch meine Arbeitstaschen ausbessern zu lassen. Irgendwann in den 1980ern oder 1990ern zog er in eine Kellerwerkstatt auf die Goethestraße um, wo er bis vor einigen Jahren auch noch ab und an aus alter Verbundenheit etwas reparierte. Und nun schließe ich den Bogen und komme endlich zum Briefmarkenladen H.C. Eiffler. Eifflers führten schon in den 1960ern und 1970ern in Radebeul-West ein Geschäft im Eckhaus Borstraße/Wilhelmstraße. Mein Vater erzählte mir, dass wiederum sein Vater in jener Zeit aus der Brandenburger Provinz angereist gekommen war, um bei Eifflers Briefmarken zu verkaufen und selbst zu kaufen und sich sogenannte „Nachträge“ für seine Klebealben zu besorgen. Zwischenzeitlich wurde das Geschäft nach Radebeul-Ost verlegt. Ich war als Kind in den 1980er Jahren selbst ein leidenschaftlicher Sammler gewesen und drückte mir also bei Eifflers Auslagen von besonderen – heute würde man sagen: „coolen“ oder „krassen“ – Motiven die Nase an der Scheibe platt. Ich erwarb mir dort über mehrere Jahre nach und nach diverse Sätze von Briefmarken aus so exotischen Ländern wie Antigua (sehr schöne Walt Disney-Motive), Laos (Sonderausgabe zu den Olympischen Winterspielen in Sarajevo 1984) und Paraguay (Motive mit Rennautos). Ein Satz, bestehend aus meistens fünf bis sieben Marken, kostete so zwischen 5 und 8 Mark. Auf diese Weise kam die große weite Welt in mein kleines enges Kinderzimmer in Radebeul und bereicherte meine tatsächlich gesammelten Bestände aus überwiegend europäischen Ländern. Jetzt könnte ich meinen Spaziergang beenden, aber ich möchte noch eine Erinnerung anfügen, die sich mit einem Zeitungskiosk auf der anderen Straßenseite der Wilhelm-Pieck-Straße (wie die Meißner Straße bis 1991 hieß), direkt vor der Straßenbahnhaltestelle und neben dem Eingang zur Gaststätte „Vier Jahreszeiten“ verbindet. In diesem Kiosk saß, wann immer ich vorbeikam, hinter der kleinen Scheibe ein bärbeißiger, kräftiger Mann mit dunkler Brille. Wenn ich dort in den späten 80ern auftauchte, dann nur, um eine Ausgabe der einzig begehrenswerten Zeitschrift für Jugendliche in der DDR zu erstehen, „Neues Leben“, kurz „NL“. Fast nie gelang es mir, denn die Hefte waren offenbar regional limitiert, in Berlin nämlich gab es sie allerorten ohne Probleme, wie ich von meinen Cousin wusste. Und also entspann sich allmonatlich zu Monatsbeginn folgender Dialog. Ich: „Ham’se das neue NL?“ Er: „Noch nicht.“ Einen Tag später. Ich: „Ham’se das neue NL?“ Er: „Nicht mehr.“ Irgendwie kam ich dann doch immer mal an ein Exemplar und durfte es mitlesen oder mir ausborgen.
Und damit ist mein Spaziergang beendet. Teilen Sie die eine oder andere Erinnerung? Wie wäre es, wenn Sie mich und andere Leser auf einem Gang durch Ihr Kindheits-Radebeul mitnehmen? Ich würde mich freuen!
Bertram Kazmirowski

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Ein Kommentar

  1. Harald Wennerlund
    Veröffentlicht am Mo, 1. Jan. 2024 um 11:27 | Permanenter Link

    “Wie wäre es, wenn Sie mich und andere Leser auf einem Gang durch Ihr Kindheits-Radebeul mitnehmen? Ich würde mich freuen”!
    Habe ich, schon nach Erscheinen des ersten Artikel´s dieser schönen Serie getan, aber leider hat er, bis jetzt, leider bei der Redaktion keine Beachtung gefunden!
    Das stimmt mich traurig. Eventuell ist er nicht so “geschliffen” geschrieben wie die anderen. Aber ich werde diese Serie, falls noch Erinnerungen erscheinen, weiter mit Interesse lesen.
    Bei Eiffler hat übrigens auch meine Sammelleidenschaft begonnen. Auch Zubehör, wie Klemmtaschen für die Vordruckalben (so die korrekte Bezeichnung) waren z.T. sehr rar und man musste “dazukommen” um sie zu ergattern.
    Der Beitrag hat wieder Erinnerungen geweckt. Die genannten Reperaturwerkstätten waren mir nicht bekannt bzw. entfallen!?
    Danke für den Beitrag

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