Aus der Serie schreibender Senioren

Stammtischgeflüster

Was sind Sie von Beruf?
Tischler
Bau- oder Möbel?
Stamm.

Zugegeben, ein uralter Witz, aber was für das Recycling von Papier, also gelesenen V&R-Exemplaren gilt, funktioniert vielleicht auch bei Witzen. Wer neuere hören will, gehe zum Stammtisch. Nur, zu welchem? Ich kenne in unserem Karl May-Dorf keinen. Auf dem richtigen Dorf gab es früher in jedem Gasthaus, in einer der Zapfanlage nächstgelegenen Ecke, einen solchen. Unter der spärlich beleuchteten Tischplatte hing ein Brett aus deutscher Eiche mit dem unverständlichen Spruch: „Dosi zende deo iwe idosi zen“, gesehen im Bayrischen Wald. Übersetzung: Da sitzen die, die immer da sitzen. Mit dem zweiten oder bereits fünften Glas Bier in der Hand, schwadronieren die Stamm-Tischler über die Dorf- und Weltlage im Allgemeinen sowie im Speziellen und ab dem siebten Glas verliert Konrad seine Schüchternheit und gibt zotige Witze zum Besten.

„Brauchen wir nicht. Wozu haben wir das Internet und die Echokammern der sozialen Medien!“ Ich habe es mal auf Facebook versucht, schon um mit den damals minderjährigen Kindern mithalten zu können. Doch bald hatte ich die Fotos von Katzen und Essenstellern satt und ließ meinen Account sanft entschlafen. Als seit einem halben Jahrhundert quer Glotzender finde ich das Bildangebot von Instagram und TikTok, nach einem Hinein-Schnuppern, irgendwie, wie soll ich sagen? Arm, das trifft es für mich am besten. „Ben Hur“ oder „Paul und Paula“ kann ich mir nur 16:9 vorstellen, lieber noch in Cinemascope, aber niemals im Hochformat.

Das Fotografier- und Filmverhalten, ich sah es in den jüngsten Urläuben, hat sich komplett gewandelt. Noch vor zehn Jahren passte ich an touristischen Hotspots auf wie ein Schießhund, damit ich keinem anderen Urlauber in die bildgebende Schusslinie laufe. Der Fauxpas kann mir heute nicht mehr unterlaufen, denn 98 Prozent fotografieren sich nur noch selbst. Andererseits, das muss ich an der Stelle einräumen, habe ich unlängst einige tausend geerbter Dias entsorgt: Landschaftsbilder! Aufhebenswert erschienen mir nur jene Hinterglas-Positive mit Personen darauf. „Tante Hilde beim Eis-Essen; die ist auch schon wieder 33 Jahre tot.“ Insofern liegt die Insta-Generation vielleicht gar nicht so falsch. Aber wieso hat uns der Schöpfer die Augen nebeneinander angeordnet? Der muss sich doch etwas dabei gedacht haben!

So etwas würde ich gerne an einem Stammtisch diskutieren. Wobei, mehr als zwei Biere schaffe ich nicht mehr. Das hätte immerhin den Vorteil, dass ich mir von irgend-einem Konrad nach dessen Siebtem keine zotigen Witze anhören müsste.

Burkhard Zscheischler

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