Radebeuler Miniaturen

Hoffnungs-Los

Die Faßsaison ist ja längst vorüber, sitze also am Tresen.

Na, zum Wohl, klingts von nebenan herüber. Dankend und trinkend sag ich, wenns so weitergeht, können wir Weihnachten wieder draußen sitzen.

Hast du Hoffnung?

Hoffnung immer, sag ich.

Da bist du gut dran, sagt er, ich hatte auch mal Hoffnung – ist lange her…

Ich seh noch die Birke, sagt er nach einer Weile.

Mein fragender Blick ermutigt ihn, weiterzureden.

Ich war ja noch nicht in der Schule damals, beginnt er, aber ich erinnere mich an diesen einen Moment ganz genau. Ich seh die Birken vor mir und höre den Gesang der „Elektrischen“ – klingt ganz anders als heute, na, du bist nicht viel jünger als ich, da kennst du ja die alten Kisten.

Großvater, sagt er und redet sich in Fahrt, Großvater behauptete immer, noch Pferdebahnen in Dresden gesehen zu haben. Deshalb fuhren wir mit der „Elektrischen“, wenn wir mit ihm fuhren. Ich denke ja, er kannte die Pferdebahn auch nur noch vom Erzählen, dabei gewesen bin ich natürlich nicht.

Aber ich war dabei, wenn er vom Krieg erzählte, der Großvater, „anno 16“ ist er ausgezogen, „ins Feld“, wie er sagte. Ich hatte ja keine rechte Vorstellung, was das bedeutete, „ins Feld“. Für mich begann das Feld gleich hinterm Zaun. Der Bauer konnte keine einzige Kartoffel ohne meine Hilfe ernten und keine Kornpuppe aufstellen ohne mich. Das Feld war für mich ein Stück Leben.
Großvaters Feld lag irgendwo weit draußen, hinter geheimnisvollen, fremden Namen, die ich mir nicht merken konnte. Mitten in der Nacht seien sie angekommen, erzählte er immer, und gleich in die Gräben geschickt worden, in denen sie kaum laufen konnten, weil überall Leichen rumlagen. Immer zu den Geburtstagen hat er das erzählt, der Großvater, wenn er die Familie bei Kaffee und Kuchen vollständig um sich versammelt wußte.

Eine Weile ist Schweigen. Seit Kindertagen, sagt er dann, sind wir – wenn wir nicht mitm Großvater in der „Elektrischen“ saßen – mit der „8“ gefahren. So hieß damals die Linie, die zu uns rauf fuhr. Es war gar nicht so einfach, für mich als ein Kind, das grade zählen lernt, das auseinanderzuhalten: 8haben, 8geben, in 8nehmen und dann mit der 8 fahren … Ich wußte nie, wem ich die 8 hätte geben sollen, wenn ich eine gehabt hätte, aber ich sollte ja dauernd 8haben! Mein Vater, fährt er nach einer Weile fort, ist als Kind auch schon mit der „8“ gefahren. Aber vom Krieg hat er wenig erzählt, vermutlich wußte er, warum. Schmerzen hat er gehabt, sein Leben lang Schmerzen, und auf die Ärzte hat er geschimpft, sein Leben lang, die nichts gefunden haben, weil nichts zu finden war – das war der Krieg. Naja.

Aber dann, jetzt paß auf, wir fahren landwärts und es gibt so ein aufgeregtes Getuschel im Wagen. Manchmal werden sogar Unmutsbekundungen laut. Das Geraune, ich hab ja mit meinen grade mal fünf Jahren nicht viel verstanden, ging um die beschlossene oder bevorstehende Einführung der „allgemeinen Wehrpflicht“. Begriffen hab ich nichts, ich ahnte aber, daß ich irgendwann Soldat werden sollte. Und da – ich seh noch die Birken, an denen wir gerade vorbeifuhren – da dachte es plötzlich in mir, „BIS ICH SO ALT BIN, IST DAS WIEDER ABGESCHAFFT“.

Es war die größte aller Hoffnungen, die ich je hatte – und sie ist natürlich bitterst enttäuscht worden.

Wenn ich mir freilich was zu Weihnachten wünschen dürfte …

Thomas Gerlach

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